16 Fragen an Sigune Schnabel

16 Fragen an Sigune Schnabel

16 Fragen an Sigune Schnabel

Sigune Schnabel wurde 1981 in Filderstadt geboren und studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen. 2014 begann sie, ihre Texte regelmäßig in Anthologien und Zeitschriften zu veröffentlichen, z. B. Die Rampe, Krautgarten, Karussell und mosaik.

Sie erhielt verschiedene Preise, war u. a. unter den Wettbewerbssiegern des Thuner Literaturfestivals Literaare im Februar 2017. Außerdem gehörte sie zu den neun Finalisten beim Literarischen März 2017. Am 16. Februar 2018 wurd sie mit dem Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis ausgezeichnet.

2017 erschien ihr Lyrikdebüt Apfeltage regnen im Geest-Verlag.

16 Fragen an Sigune Schnabel

Wann stehen Sie morgens auf, wann gehen Sie abends schlafen?

Berufsbedingt stehe ich normalerweise um 5:45 auf und gehe meist um 9, spätestens um 10 ins Bett. Da ich Pendlerin bin und im besten Fall drei Stunden täglich für die Fahrt benötige, bleibt auf diese Weise leider wenig vom Tag übrig.

Wenn Sie eine Zeitung aufschlagen, lesen Sie zuerst den Sportteil oder das Feuilleton?

Das Feuilleton. Für den Sportteil habe ich einen sehr schönen, handgeflochtenen Papierkorb.

„Wirklich anspruchsvollen Menschen ist Glück gleichgültig, vor allem das der anderen.“ (Bertrand Russell) Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Ich finde das Wort „anspruchsvoll“ nicht gut gewählt. Wenn man es mit „karrierebesessen“ oder „machtbesessen“ ersetzt, stimme ich der Aussage zu. Jedenfalls gibt es einen Menschenschlag, dem Statussymbole und gesellschaftliche Stellung wichtiger sind als inneres Glück und der dafür eine gewisse Rücksichtslosigkeit an den Tag legt, auch sich selbst gegenüber. Ich wiederum kann in erster Linie durch Zeit Glück empfinden. Dennoch sollte zwischen Zeit und Geld ein ausgewogenes Verhältnis bestehen – ein Zustand, der in unserer Gesellschaft nicht leicht zu erreichen ist, nicht zuletzt, weil wir dafür die Erwartungen anderer enttäuschen müssen, indem wir uns nicht in das Idealbild des erfolgreichen Sohnes oder der Vorzeigetochter einfügen.

Wir verkaufen unsere Lebenszeit, um unsere Bedürfnisse befriedigen zu können. So funktioniert unser gesellschaftliches System. Oft ist es nun aber so, dass wir mehr Zeit verkaufen, als nötig wäre, um ein zufriedenes Leben zu führen – und dann versuchen wir, uns wieder Zeit zurückzukaufen, z. B. eine Fahrkarte für eine schnellere Zugverbindung zu einem höheren Preis. Die Absurdität dahinter wird selten begriffen. Wir fügen uns in das System ein, ohne zu hinterfragen, was tatsächlich das richtige Lebensmodell für uns ist.

Zurück zu dem Wort „anspruchsvoll“: Der Duden definiert es als „mit großen [Qualitäts]ansprüchen“ oder „wählerisch“. Wählerisch ist nicht, wer rücksichtslos und gleichgültig ist. Vielmehr bedeutet es, eine Wahl zu haben und dieser Wahl eine hohe Bedeutung beizumessen. Sie kann auch für das eigene Glück oder für das Glück der anderen ausfallen – im besten Fall für beides.

Natürlich habe ich hier nur die deutsche Übersetzung kommentiert, die eine nicht wörtliche, interpretierte Wiedergabe und in meinen Augen etwas schief ist. Wenn man sich die Textpassage ansieht, wo der Satz vorkommt, ist wohl eher Sarkasmus zugrunde zu legen. Hier habe ich weder den Kontext noch die Russell’sche Gesellschaftskritik einbezogen. Im Original lautet der Satz: „Really high-minded people are indifferent to happiness, especially other people’s.” Mein Fazit ist daher: Ohne Kontext und in dieser Übersetzung klingt der Satz ziemlich unsinnig; wenn man sich jedoch den Originaltext in seinem Zusammenhang anschaut, wird diese Annahme widerlegt.

Welche Genüsse gönnen Sie sich im Alltag? Welche sind für Sie besonders?

Besonders und zugleich der höchste Genuss ist für mich die Freiheit zu entscheiden, wie ich einen Tag verbringe.

Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen, wie hat es Ihnen gefallen?

Lyrik: Dinçer Güçyeter, Aus Glut geschnitzt. Wortgewaltige Gedichte, die überraschen und weit mehr als den Verstand ansprechen, die vielmehr im Leser eine Welt aus Bildern und Gefühl erschaffen.

Prosa: Reinhard Piechocki, Melissa Müller, Alice Herz-Sommer – „Ein Garten Eden inmitten der Hölle“. Ich sah das Buch bei meiner Großmutter herumliegen. Eine Biografie, die bewegt und Bewunderung auslöst und hinter der die eigenen Probleme manchmal ganz klein erscheinen.

Wer oder was inspiriert Sie und weshalb?

Am meisten inspiriert mich Ruhe, eigene Gelassenheit und ein entspanntes In-den-Tag-leben. Mein Alltag tötet in der Regel jeden künstlerischen Impuls oder lässt ihn gar nicht erst aufkommen. Am besten kann ich im Urlaub schreiben, an einem Ort, an dem ich alles tun kann, nichts muss, eine gewisse Freiheit habe, die bei mir Kreativität erst möglich macht.

Wie wichtig finden Sie Kontakte zu anderen Künstlern?

Sehr wichtig. Zum einen nehme ich gern mit anderen Autoren an Lesungen teil, zum anderen gehe ich für einen gezielten Austausch unregelmäßig zur Textwerkstatt neolith der Uni Wuppertal. Dort besprechen wir eigene Texte und geben eine gleichnamige Zeitschrift heraus, bei der ich dieses Jahr auch in der Redaktion mitgearbeitet habe.

Wie würden Sie Ihren typischen künstlerischen Schaffensprozess beschreiben?

In der Regel warte ich nicht auf eine zufällige Eingebung, sondern beginne einfach und lasse mich selbst davon überraschen, was dabei herauskommt. Inspiration entsteht bei der Tätigkeit selbst. Ich muss es zulassen, dass ich anfange und gar nicht weiß, was ich da mache. Dafür ist jedoch ein inneres Loslassen vom Alltag nötig. Hinzu kommt ein nicht wertendes Denken, also eine Haltung, die uns schon von klein an abtrainiert wird.

Manchmal ist das Ergebnis verwendbar, manchmal nicht. Im ersten Fall folgt ein längerer Überarbeitungsprozess. Am liebsten lege ich meine Texte zunächst weg und versuche, Abstand zu gewinnen. Immer wieder hole ich sie hervor und ändere sie so lange, bis sie auf mich einen abgeschlossenen Eindruck machen. Ich behalte jede Fassung und kopiere die Überarbeitung oben in die Datei, sodass nicht selten seitenlange Dokumente mit verschiedenen Entwicklungsstufen entstehen. So habe ich, wenn ich etwas umschreibe, nicht das Gefühl, ich könnte es kaputt machen, denn ich habe jederzeit die Möglichkeit, zur alten Version zurückzukehren.

Wie viel Zeit wenden Sie täglich für Ihre Kunst auf?

Über „täglich“ hätte ich beinahe gelacht. Nein, im Ernst, ich muss auch Geld verdienen, einem Brotberuf nachgehen, wie wahrscheinlich die meisten von uns. Diese Tätigkeit nimmt den größten Teil der Zeit in Anspruch, die ich in wachem Zustand außerhalb von Zügen verbringe. Meine Texte entstehen im Urlaub und an Wochenenden.

Wie gehen Sie mit Schaffenskrisen um?

Ich war bisher immer in irgendeiner Form kreativ tätig. Manchmal mache ich mehr Musik, manchmal greife ich eher zum Stift. Ohne Kunst im weiteren Sinn habe ich das Gefühl, innerlich zu verkümmern und die Verbindung zu mir selbst zu verlieren. Die Entfremdung vom eigenen Leben wird dann immer größer, sodass die Krise eher dann entsteht, wenn keine Zeit und Ruhe für einen Schaffensprozess übrig bleibt. Um es mit dem Titel eines meiner Texte zu formulieren: „Das Leben sagt ‚Sie‘, wenn es mit mir spricht“. Dieses Gefühl verschwindet, wenn ich kreativ sein darf. Dann nähern wir uns wieder aneinander an, mein Leben und ich.

Verfolgen Sie klare Ziele in Ihrer Kunst?

Das Leben besteht zu oft aus Zielen, weil stets genau das von uns erwartet wird, sei es in der Ausbildung, im Beruf, bei vielen Menschen auch im Sport oder bei anderen Freizeittätigkeiten. Warum kann man nicht einfach nur sein, oder noch besser: glücklich sein?

Beschäftigen Sie sich mit Ihrem eigenen Tod?

Zum Thema „Tod“ allgemein lese ich viele Bücher. Manchmal werde ich geradezu wütend über die Endlichkeit des Lebens. Wir haben keine Kontrolle über uns, hängen an etwas, was wir nicht verstehen. Wir gehören uns nicht. „Es“ – was immer es ist –  behandelt uns wie unmündige Kinder, erklärt uns weder Sinn noch Zweck. Wir bleiben im Unwissen darüber, wie viel Zeit uns zur Verfügung steht. Ein tyrannischer Vorgesetzter, dieses „Es“, einer, der sich nicht mit den Belangen Untergebener befasst.

An anderen Tagen empfinde ich es als Absurdität, wie wir hier in diesem „Spiel“ stecken, ohne es zu begreifen, aber auf der anderen Seite so viel auf dem Gebiet der Wissenschaft erreicht haben.

Untersuchungen wie die AWARE-Studie faszinieren mich (https://www.focus.de/wissen/mensch/tid-33203/streich-des-gehirns-oder-seelenbeweis-nahtoderfahrung-wie-sich-berichte-aus-dem-jenseits-erklaeren-koennten-die-aware-studie-sucht-nach-einem-beweis_aid_1084268.html). Dennoch begreife ich bis heute nicht, was es eigentlich ist, was wir „Leben“ nennen – und somit bleibt für mich auch der Tod angstbesetzt. Mein Selbsterhaltungstrieb ist zu groß, um mich einfach hinzugeben, auch im Unwissen, ob mein Bewusstsein, mein Sein, für immer vernichtet wird.

Woran glauben Sie und warum (nicht)?

Ich würde mich am ehesten als Agnostikerin bezeichnen. Vielleicht gibt es einen Gott, vielleicht nicht. Vielleicht existieren wir nach dem Tod weiter, vielleicht wird unser Bewusstsein auch ausgelöscht. Woran ich allerdings glaube, das sind die Erfahrungen der Menschen. Wenn ich z. B. über eine Nahtoderfahrung lese, zweifle ich nicht daran, dass sie genau so erlebt wurde, sauge die Geschichte geradezu begierig auf. Dennoch komme ich für mich nicht zu einer übergeordneten Einordnung. Seit ich selbst einige der typischen Merkmale in Klarträumen erlebt habe (Tunnelerfahrungen, Vibrationen, Verlassen des Körpers, Schweben im Raum, Fortgezogenwerden …), stellt sich mir vermehrt die Frage, worin der Unterschied zwischen diesen Träumen (besonders „WILD“ = wake-induced lucid dreams) und den Berichten von Menschen mit Herzstillstand besteht, warum beides so ähnlich ablaufen kann und dennoch das eine authentisch sein soll, das andere „nur“ eine Traumumgebung ist (jedenfalls bei mir, wie sich nicht nur in der Surrealität, sondern auch in diversen von mir durchgeführten Tests äußerte). Eine vergleichende Studie zu beiden Phänomenen wäre interessant.

Auf jeden Fall glaube ich, dass wir zu den unmittelbaren Erlebnissen zurückkehren müssen, um mehr zu verstehen.

Wann haben Sie sich das letzte Mal geschämt und warum?

Das wäre nicht schwer zu beantworten. Allerdings schäme ich mich. Deshalb schweige ich zu diesem Thema.

Wie wichtig sind Ihnen Manieren im Alltag?

Mit herkömmlichen Manieren und Benimmregeln kann ich nichts anfangen. Meine Großmutter erzählte mir einmal, dass sie mit Büchern unter den Armen essen musste, um die Ellenbogen nah am Körper zu halten und nicht auf dem Tisch abzustützen. So eine Erziehung wirkt auf mich befremdlich.

Allerdings gibt es für mich auch Grenzen, nämlich dann, wenn andere zu Schaden kommen, z. B. bei bösartiger Aggressivität.

Auch passiv aggressive Höflichkeit, bösartige Aussagen gekoppelt mit formal freundlichem Verhalten gehören nicht zu meinen favorisierten Verhaltensweisen. Heute verspotte ich solche versteckten Angriffe. Eine freundliche, konstruktive Offenheit ist mir lieber.

Welche Ihrer Eigenschaften sind Ihnen am wichtigsten?

Entschuldigt die Frage, aber: Sitze ich gerade in einem Vorstellungsgespräch?

Vielen Dank für die Beantwortung der 16 Fragen, Frau Schnabel!

Ausgewählte Veröffentlichungen von Sigune Schnabel

Hier gelangen Sie zum Archiv der 16 Fragen mit allen bisher veröffentlichten Ausgaben.

 

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