Lars Döring – An still verschwundenen Orten – Traumflimmern

Es war ein fahler, fast lichtloser Tag im September, als hielte jemand ein Stück Papier gegen die Sonne. Dunkle Wolkenfetzen kauerten eng beieinander und zogen eilig über den grauen Himmel hinweg, hier und da fielen ein paar erste Regentropfen, das Gewitter von anderswo kam näher. Der Sommer hatte in den vergangenen Tagen seine zarten Ranken noch einmal ausgestreckt und die Menschen vor ihre Häuser und in die Eisdielen und Freibäder gelockt, als wolle er Unordnung in den angebrochenen Herbstanfang bringen, der schon die ersten herabfallenden Blätter zeitigte. Auf das überraschende Hoch folgte allerdings ein umso betrüblicheres Tief: Der anschließende rasche Temperatursturz ließ die wiederbelebten Plätze erneut vereinsamen, die Gartenmöbel wurde eingeräumt und endgültig im Keller verstaut, die Markisen ein letztes Mal eingefahren. Man verharrte zu Hause, innerlich zerrissen, ob der Herbst nun ganz und gar einzöge, mit seinen stürmischen, regendurchschauerten Tagen und man Sommerkleid und Kurzarmhemd gegen Regenjacke und Pullover eintauschen müsse, oder ob die warme Jahreszeit ihr letztes Wort vielleicht noch nicht gesprochen hatte.

Doch in all die Unglückseligkeit fiele nach und nach ein leiser Hoffnungsschimmer. Denn der Herbst brachte nicht nur graue Eintönigkeit hervor, sondern auch die Farbpracht der Bäume und ihr buntes, nach Erde und Moos duftendes Laub. Anstelle des Treibens an Seen und Stränden würde man die Geschäftigkeit der Bauern bei der Ernte beobachten können, die mit ihren Traktoren die goldgelben Kornfelder durchstreiften. Statt süß-fruchtiger Wassermelone gäbe es Kürbissuppe und Eintöpfe zu verkosten, und das gemütliche Sitzen vor dem Kamin stellte einen angenehmen Gegensatz zu den tropischen Temperaturen des Hochsommers dar. Dieser Bilderbuch-Herbst wäre kein unwillkommener Gast mehr, wenn er es sich erst einmal häuslich eingerichtet hätte. An diesem Tag schien er jedoch in weite Ferne gerückt, und ein jeder blickte aus seinem Fenster und sah denselben, vor Grau erstarrten Himmel und die dunklen Gewitterwolken, aus denen leichter Regen an die Scheiben klopfte. Man befand sich am Übergang von einer Jahreszeit in die nächste, in einer Phase des „Noch-nicht-ganz“, der unsicheren folgenden Schritte, die so oder auch ganz anders verlaufen könnten, und was die einen an dieser Unklarheit zuversichtlich stimmte, trieb die anderen in die Verzweiflung.

Das ferne Gewitter riss Martin aus seinem Halbschlaf. Es war ein ruckartiges Erwachen, die Nachbilder des undeutlichen Traums flimmerten noch vor seinen Augen und setzten sich für eine Weile dort fest. Er musste dabei unweigerlich an die „Einbrenngefahr“ mancher Fernsehgeräte denken, die nach der Darstellung statischer Elemente über einen zu langen Zeitraum Geisterbilder hinterließen. Ein Freund von ihm war damals einer der ersten gewesen, der sich einen der neu auf dem Markt erschienenen Plasmafernseher gekauft hatte, die bekannt waren für ihre ausgezeichnete Bildqualität. Als Martin bei ihm zu Besuch war, wunderte er sich über die über den halben Bildschirm laufenden, parallel zueinanderstehenden Schattengeraden, die nach oben hin konvergierten (sich aber nicht kreuzten) und sich auf jedem Sender und sogar bei ausgeschaltetem Bildschirm zeigten. Es stellte sich heraus, dass sein Freund — ob aus Ironie oder echtem Interesse war Martin nicht ganz klar — gewohnheitsmäßiger Zuschauer der nachmitternächtlichen Sendung Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands war, die unkommentierte Führerstandsmitfahrten aus Sicht des Lokführers zeigte und über mehrere Stunden hinweg ohne Schwenks oder Perspektivwechsel auskam. Der Schienenstrang, auf dem der Zug sich bewegte, blieb bei den Aufnahmen die einzige Konstante und brannte sich schließlich in die Mitte des Fernsehers ein, sodass fortlaufende, ins Nichts führende Gleise die Hälfte des Bildschirms einnahmen. Angeblich konnte man die Schlieren, wenn sie noch nicht zu stark waren, wieder entfernen oder zumindest ein wenig abschwächen, hatte Martin einmal gelesen. Doch so lange er seinen Freund kannte, machte dieser keine Anstalten sie loszuwerden. Nach einiger Zeit waren sie für ihn nicht nur ein Teil, sondern das Bild an sich, und als der Fernseher eines Tages den Geist aufgab, kaufte er sich auch keinen neuen.

Martin dachte zurück an seinen Traum. Aber da war nichts mehr, an das er sich erinnern konnte. Auch kein Flimmern mehr zu sehen, die Schattenbilder schon wieder überlagert von den Aufnahmen des Felsmassivs „El Capitan“ aus dem Yosemite-Nationalpark, die ihm Anfang der Woche von seinem derzeitigen Auftraggeber per Mail zugeschickt worden waren. Man hatte ihn über die Plattform Fiverr kontaktiert, auf der Freelancer wie Martin ihre Dienste anboten und die seit vielen Jahren seine einzige Einnahmequelle darstellte. Sein neuer Kunde verwaltete die Website deine-traumreisen.de, die mit „authentischen Reiseberichten von Travelern für Traveler“ warb. Martin sollte einen „mitreißenden, emotionalen Text mit viel Storytelling“ für sie schreiben, der die Besucher dazu animierte, selber Urlaub in Kalifornien zu machen. Er hatte noch nie einen Fuß in die USA gesetzt, kannte den El Capitan soeben vom Hintergrundbild seines Laptops, das nach einem Update des Betriebssystems ohne sein Zutun plötzlich auf dem Desktop erschienen war. Doch wie gewöhnlich würde er auch hier vorgehen wie für jeden seiner Aufträge: Blogs und Foren nach echten Erfahrungen und Eindrücken durchsuchen, sie abändern, miteinander vermischen, neue Dinge hinzuerfinden. So schreiben, als sei er selbst vor Ort gewesen. Seine Texte verliefen dabei immer nach dem gleichen Muster und waren aus der Sicht eines unbedarften Touristen verfasst, der das Licht der einfallenden Sonne auf der Bergspitze, den würzigen Geruch des Waldes oder die kühle Atmosphäre der sakralen Gebetsstätte stimmungsvoll erfasste und Lust auf die Gegend machte. Auf eine allzu genaue Beschreibung kam es dabei nicht an. Wichtig war allein, bei den Lesern eine Emotion auszulösen, eine persönliche Geschichte zu erzählen, mit der sie sich identifizieren konnten. Seine Reiseimpressionen der arktischen Tundra vor einigen Monaten erfolgten etwa vor dem Hintergrund eines Mannes mittleren Alters, der gerade eine Midlife-Crisis durchmachte und als Backpacker in einer abgeschiedenen Iglu-Siedlung landete, wo er zwischen Eskimo-Schamanen und Kehlkopfgesängen ein spirituelles Erweckungserlebnis hatte. Der Bericht war tausendfach aufgerufen worden und hatte dazu geführt, dass er in der Folge in den ihm bekannten Online-Foren auf etliche Beiträge stieß, die von einer Reise an den nördlichen Polarkreis schwärmten. (Die auch nur abgeschrieben waren und die man wiederum abschreiben würde? So wie eine hundertfach kopierte Bilddatei irgendwann nur noch aus unerkennbarem Pixelbrei bestand?)

Doch am „El Capitan“, so schien es Martin, würde er scheitern. Nicht, weil er keine ausreichenden Informationen über ihn fand – im Gegenteil, er las dutzende Berichte von Urlaubern und Reisebloggern, die den Yosemite-Nationalpark besucht hatten und von ihren Eindrücken der erklommenen Felsformation berichteten. Aber zum ersten Mal empfand er so etwas wie Ekel, nicht nur vor den immer gleichen Beschreibungen des Steins im Internet, sondern auch (und vor allem) vor seiner Arbeit als Kopist. Er hatte die knapp einhundert Fotos, die ihm zur Inspiration von seinem Auftraggeber zugesendet worden waren (der Fels aus allen möglichen Perspektiven und Winkeln, verschiedenen Brennweiten, zu jeder Tages- und Nachtzeit, sogar als Drohnenaufnahme aus der Luft), Stunden über Stunden angesehen. Aber da gab es nichts, was an ihm haften geblieben war, und je mehr er sich in die fremden Berichte einlas, desto weiter entfernte er sich von dem zu beschreibenden Objekt. Kurze Zeit später musste er eingeschlafen sein, dann war da nur noch das Nachflimmern des Traums, an dem alles (dem Traum? dem Felsen?) farblos und künstlich war. Unecht.


Die vollständige Geschichte (inklusive Bildern), gibt es auf Lars Dörings Blog zu lesen: schreibreflexe

Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Lars Döring.

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