Archiv der Kategorie: Prosa

Alina Becker – Als Lily eine lustige Geschichte schreiben wollte

Immer wenn Lily schreibt, bekommt sie diesen völlig entrückten Gesichtsausdruck. Wenn sie überlegt, starrt sie dann Löcher in die Luft, egal wo sie sich befindet. So wie jetzt im Café.
„Lily?“ Ich fuchtele mit meiner Hand vor ihren Augen herum, die auf ein Bild an der Wand gerichtet sind, eine dieser kitschigen Fotografien, auf denen kleine Kinder küssender- oder schmusenderweise abgebildet sind, in Schwarz-Weiß mit Farbakzenten, meistens Rosen, wie auch in diesem Fall. Gar nicht Lilys Geschmack, und doch starrt sie schon seit fünf Minuten auf diese trikolore Scheußlichkeit.
„Shht!“, macht Lily. „Ich denke.“
„Soll ich dir dabei helfen?“, biete ich an, denn meine Kaffeetasse ist mittlerweile leergetrunken, der Inhalt von Lilys bestimmt eiskalt geworden, und ich langweile mich. Lily klopft mit ihrem Kugelschreiber, einem dieser billigen Plastikteile, die sie immer zigfach in Drogeriemärkten kauft, gegen ihre Schneidezähne. Lily hat bemerkenswert große Schneidezähne, die genügend Klopffläche bieten.

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Dana Shirley Schällert – Schlieren

Dein Auto wird jetzt auf einem der Parkplätze der psychiatrischen Einrichtung stehen, versteckt hinter hohen Buchen, stimmt’s? Wenn das Licht drauf fällt, dann schimmert‘ s grünlich im Farbton der Bäume, geht entgegen der Seite in einen bläulichen Lilaton über, der zugleich den Himmel als auch die wilden Glockenblumen am Parkplatzrand zu spiegeln scheint, getaucht in einen schillernden Glanz. Und das erinnert mich an Seifenblasen, Kindheit, Träume. Vielleicht denkst du das auch oft, vielleicht assoziierst du aber auch ausgelaufenes Benzin, Schlieren, Ölteppiche, die die Meere vergiften. Bestimmt beides. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass du hier bist.

Meine Gedanken sind frei, anders als du, ich bin nicht dort, anders als du, lieg hier in meinem Bett und lasse sie fliegen, über dein Auto, Audi, Cabriolet, oldfashioned, mit den Augen eines Raubtiers, ausgeprägter Kühlergrill, Zähne oder Gitterstäbe. Ich hab noch nie drin gesessen. Gewünscht hab ich’s mir aber oft. Deinetwegen, du Spinner. Der Lack irisiert in den niedrigen Sonnenstrahlen, sein Motor ist kalt, ich hoff, du hast es zumindest am Tage fahren dürfen, aber das darfst du sicher nicht, der Medis wegen, vielleicht wirst du davon dösig, kannst nix mehr, als in einem dieser Zimmer hocken. Ich hoffe, das bist dann noch du. Darf ich mir wünschen, dass du bleibst, wie du bist? Das Zimmer stell ich mir als dunkel und unpersönlich vor, fremd, und dein Auto auch, es wird mit voranschreitender Stunde fremd und schwarz, wenn die sich gesenkt habende Sonne den Parkplatz ins Dunkel kippen wird. Du. Dunkler Mensch im dunklen Raum. Die unruhigen grün-grau-blauen Augen mit dem gelblichen Rand um die Pupille, der unstete Blick, diese Iris, deren Farbe ich genauso wenig fixieren kann wie das Farbspektrum deines Autos, wie die allzu schnellen Regungen deiner Gefühle und Stimmungen, wie die Bewegungen deiner Füße unter dem Bürotisch oder um denselben herum, während ich mich zu konzentrieren suchte, du schlingerst, du schlierst. Wenn ich dich anschau, dann lieb ich dich, aber du bist entweder ganz da oder ganz weg – und da, ganz ehrlich, wünsch ich mir schon, dass sich das irgendwie ändert. Aber nicht du selbst sollst dich ändern. Dass du glücklich sein sollst, mit dir, das mein ich.

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Dein Auto wird jetzt auf einem der Parkplätze der psychiatrischen Einrichtung stehen, versteckt hinter hohen Buchen, stimmt’s? Wenn das Licht drauf fällt, dann schimmert‘ s grünlich im Farbton der Bäume, geht entgegen der Seite in einen bläulichen Lilaton über, der zugleich den Himmel als auch die wilden Glockenblumen am Parkplatzrand zu spiegeln scheint, getaucht in einen schillernden Glanz. Und das erinnert mich an Seifenblasen, Kindheit, Träume. Vielleicht denkst du das auch oft, vielleicht assoziierst du aber auch ausgelaufenes Benzin, Schlieren, Ölteppiche, die die Meere vergiften. Bestimmt beides. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass du hier bist.

Meine Gedanken sind frei, anders als du, ich bin nicht dort, anders als du, lieg hier in meinem Bett und lasse sie fliegen, über dein Auto, Audi, Cabriolet, oldfashioned, mit den Augen eines Raubtiers, ausgeprägter Kühlergrill, Zähne oder Gitterstäbe. Ich hab noch nie drin gesessen. Gewünscht hab ich’s mir aber oft. Deinetwegen, du Spinner. Der Lack irisiert in den niedrigen Sonnenstrahlen, sein Motor ist kalt, ich hoff, du hast es zumindest am Tage fahren dürfen, aber das darfst du sicher nicht, der Medis wegen, vielleicht wirst du davon dösig, kannst nix mehr, als in einem dieser Zimmer hocken. Ich hoffe, das bist dann noch du. Darf ich mir wünschen, dass du bleibst, wie du bist? Das Zimmer stell ich mir als dunkel und unpersönlich vor, fremd, und dein Auto auch, es wird mit voranschreitender Stunde fremd und schwarz, wenn die sich gesenkt habende Sonne den Parkplatz ins Dunkel kippen wird. Du. Dunkler Mensch im dunklen Raum. Die unruhigen grün-grau-blauen Augen mit dem gelblichen Rand um die Pupille, der unstete Blick, diese Iris, deren Farbe ich genauso wenig fixieren kann wie das Farbspektrum deines Autos, wie die allzu schnellen Regungen deiner Gefühle und Stimmungen, wie die Bewegungen deiner Füße unter dem Bürotisch oder um denselben herum, während ich mich zu konzentrieren suchte, du schlingerst, du schlierst. Wenn ich dich anschau, dann lieb ich dich, aber du bist entweder ganz da oder ganz weg – und da, ganz ehrlich, wünsch ich mir schon, dass sich das irgendwie ändert. Aber nicht du selbst sollst dich ändern. Dass du glücklich sein sollst, mit dir, das mein ich.

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Johannes Tosin – Georg Fürnpass‘ AB

Hallo, hallo, Sie sind auf Georg Fürnpass‘ AB. AB steht für A-n-r-u-f-b-e-a-n-t-w-o-r-t-e-r, noch ganz retro auf Festnetz und nicht im Mobilfunknetz. Nach der Katastrophe ist das Mobilfunknetz ja bestimmt zusammengebrochen. Das verkabelte Netz könnte es immer noch geben. Hoffen wir mal so. Wenn Sie nun anrufen, merkt man ja, dass es noch intakt ist. Wer ist eigentlich „man“? „Man“ kann ich sein oder Sie oder die Domina, die mit dreiundsechzig noch anschaffen geht. Manchen bleibt wirklich nichts erspart, ich meine damit die Domina. Nicht, dass ich bei ihr Gast gewesen wäre, und wenn doch, ist es nun vollkommen egal. Ist es nicht so? Wir haben jetzt andere Probleme.

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Minze – Eingriff

Er sieht mich nicht an, als ich dastehe, zumindest scheint es so. Eigentlich sehe ich ihn direkt an und er ist überrascht und schaut vorbei. Ich habe mich bereits auf Slip und BH ausgezogen, die Sprechstundenhilfe sagte, ich könne den BH auch wegmachen, da kommt er schon. Ich bin davon ausgegangen, ich würde nur von der Sprechstundenhilfe in das Zimmer gebracht, auf dem Schild steht Chirurgie, aber sie bleibt da, sie hat noch eine zweite dabei, ich vermute, die zweite ist in Ausbildung, denn ihr wird alles Mögliche erklärt, auch von ihm.

Als wir die Entfernung des Muttermals und des roten Punktes am Po vereinbart haben, habe ich mir vorgestellt, wir sind zu zweit.

Er öffnet die Tür in einer Vorstellung, die unterbrochen wird. Ja, um welche Hautpartien geht es noch einmal, sagt er. Dabei ist er total aufmerksam, ich bin mir sicher, ich fühl, dass er weiß, worum es geht und es trifft auch sofort auf sein Verständnis, seine Aufmerksamkeit, als ich ihn frage, ob ich den BH ausziehen soll, er meint, wir bekommen es so hin und wechselt den Blick vom Muttermal zu mir, zu meinem Gesicht, er bittet mich, mich hinzulegen, ich bin ein bisschen beunruhigt, er sagt dann, wie er das machen wird und dass desinfizieren und lokale Anästhesie vorangehen. Er schaut mich weiter an, ich aber wende mich ab. Ich höre ihn, finden die beiden Sprechstundenhilfen laut. Sie machen Geräusche, suchen das Geschirr oder besprechen die Materialien, die Ältere erklärt der Jüngeren, wo was liegt. Ich, die mit der ganzen Aufmerksamkeit bereit sein wollte für das, was er mir erklärt, bin abgelenkt. Ich spüre die Verbindung zwischen meinem Körper, seinem nahenden Eingriff und meiner Angst oder Vorfreude wenig – noch, doch dann passiert schon etwas. Ein Kribbeln, ich tippe an meinen Oberschenkeln, leise, kann mich nicht so bewusst hinlegen, so eine ganze Weile in Unterwäsche direkt vor ihm, wie er neben mir sitzt. Mich zu mir zu verhalten, kann ich kaum, das ist es, warum ich wegsehe, ich bin in einer neutralen Position.

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Dana Shirley Schällert – Wie man schreit

Über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen

Als ich ein Kind war, da habe ich immer sehr laut geschrien. In unserem weißgetünchten Haus mit den vollautomatischen Rollläden und der Einfahrt aus Schotter, Kies und Pflastersteinen. Blecheimerstimme, hat meine Mutter immer gesagt. Meine Mutter mit der Blumenallergie. Meine Mutter, die so oft nicht da war. Und wenn sie da war, dann war sie doch nicht da. Deswegen war ich oft sehr traurig. Wer so rumschreit mit so einer Blecheimerstimme, der kriegt eh nicht, was er will. Und den will übrigens auch keiner. Das hält ja niemand aus. Wenn du dein Leben lang mit so einer Blecheimerstimme schreist, dann werden sie alle vor dir wegrennen. Dann wirst du immer alleine sein. Da habe ich ganz laut geschrien. Mit meiner Blecheimerstimme, bis mir der Hals ganz trocken war. Und meine Mutter ist weggegangen.

Ich bin dann älter geworden. In der Pubertät habe ich auch noch manchmal geschrien. In meinem Zimmer. Gegen die grauen Wände und altrosa Vorhänge. Vielleicht eher nicht wie ein Blecheimer. Vielleicht höher. Vielleicht hysterischer. Vielleicht eher wie der Wasserkocher in der Küche der Wohngruppe. Habe geschrien, als wenn es ganz hoch pfeift in der Luft. Als wenn die Wand zittern, der Vorhang sich bauschen, der Kaktus auf dem Sims herabfallen, das Glas bersten müsse. Und es stimmte schon. Wenn ich mal einen Freund gefunden hatte und der mich mochte und der eigentlich gerne mit mir zusammen war und ich dann so geschrieben habe, weil irgendwas nicht so war, wie ich mir das vorgestellt hatte, meist weil ich Angst hatte, dass er geht, dann ist er gegangen. Dann war ich allein. Und mit Freundinnen war das auch oft so. Eigentlich habe ich immer geschrien, wenn ich hätte weinen wollen. Aber ich hatte gelernt, die Tränen runterzuschlucken.

Irgendwann wurde ich erwachsen. Und das hörte auch nicht auf. Habe dann nicht mehr geschrien. Habe gelernt, auch das Schreien runterzuschlucken. Habe ein Kind, das aus einem zufällig gefallenen Samen gewachsen ist. Das schreit manchmal. Ich gehe nicht weg. Als es noch ganz klein war, schrie es sogar sehr viel. Ich schwieg still, pfiff auf dem letzten Loch, schaute über die in der Heizungsluft längst welk gewordenen Alpenveilchen hinweg aus dem Fenster der Dachgeschosswohnung in die Nacht, lief schließlich stumm und mit blindem Kopf hinter dem Kinderwagen her durch die dunkeltauben Straßen mit den vereinzelt rauschenden Bäumen, trug im Blecheimer den Müll heraus, während es in Strömen goss, und fragte mich manchmal, warum ich aufgehört hatte zu schreien. Ob ich mich längst selbst verschluckte. Ob es nicht besser ist, sich selbst schreien zu hören, im eigenen Schall zu stehen, als in jenem der anderen. Habe das Kind mit der Blecheimerstimme angeschaut, als sei es nicht mein Kind. Ich könnte gehen. Den Mund aufmachen. Schreien, solange ein Ton kommt, bis Tränen kommen, bis ich ganz heiser bin, bis alles herausgeschrien ist. Dann wäre ich allein. Und würde wieder schweigen. Und wenn alle gehen würden, alle Menschen in der Welt, weil sie das Schreien der anderen nicht aushielten, nach ihrem Schreien wieder schweigen würden, dann würde es ganz still sein. Und wir würden einander nicht mehr hören. Einander nicht mehr sehen. Wir wären alle allein.

Heute bin ich erwachsen. Und manchmal will ich schreien. Es klingt eigentlich gar nicht wie ein Blecheimer. Nicht wie ein Wasserkocher. Ich denke an Vogelstimmen, ich schreie sehr unterschiedlich. Eine Eule, eine Krähe, eine Falkin. Ein Wind, ein Sturm, ein Regenguss. Manchmal schreie ich im Ernst, manchmal schreie ich im Spiel. So wie mein Kind. Manchmal klingt es bei uns wie im Frühlingsgarten, in unserem kleinen Schrebergarten, wenn die Vögel ihre Brutreviere markieren, wenn der Sturm den Regen ablöst und wir rasch ins kleine Häuschen flüchten, eng, oder wenn die Amsel vor der Katze warnt und der Nachbar den Rasenmäher anschmeißt. Manchmal liegt mein Kind auf meiner Brust, drinnen oder draußen, ganz dicht unter meinem Hals, ganz dicht nach einem Wutanfall, und ich denke, dass sich ihr Kopf heben müsste, wenn ich schlucke, höre, wie ihr Atem noch pfeift von der Anstrengung, weil sie etwas Asthma hat, und wir schauen in den Himmel, wie die Vögel vorbeifliegen, auch wenns die Zimmerdecke mit der Plusterlampe ist. Wir sind dann still. Ich streiche über ihre vom Schweiß durchtränkten schütteren Haare. An kalten Tagen gibt es Heiße Liebe aus Himbeer und Vanille, wenn es sehr warm ist, dann Eistee, der hilft gegen trockne Kehlen. Und immer gießen wir unsere Blumen mit dem Eimer aus Blech, damit sie nicht vertrocknen.


Jede Menge Prosa und mehr von Dana Shirley Schällert findet ihr auf ihrer Homepage: dana-shirley-schaellert.de