Jochen Pogrzeba – Ich bin Cator

Schon morgen um diese Zeit werde ich tot sein.

Ich schaue auf die alte Bahnhofsuhr, deren steife Zeiger devot ihren immer gleichen Dienst tun. Es ist kurz vor sieben an diesem Freitagmorgen. In wenigen Stunden werde ich in Kassel angekommen sein, und morgen werde ich nicht mehr leben. Ich sehe die anderen Reisenden, wie sie ameisengleich auf dem Bahnsteig umherlaufen, bepackt mit Koffern und allerlei Krimskrams. Ich irre nicht umher, ich bin die Ruhe selbst. Ich habe keinen Koffer, ich brauche keinen Koffer.
Eine Stimme aus einem Lautsprecher kündigt den ICE nach Kassel an. Ich habe meine Fahrkarte bar bezahlt, niemand soll wissen, wohin ich fahre. Ich werde in den Zug einsteigen und einfach weg sein. In den Zug, der mich von hier wegbringt, und immer näher zu dir. Ich bin Cator, ich bin dein Fleisch.

Ein kalter Wind geht durch den Bahnhof Zoo und ich ziehe meine Jacke zu. Es ist immer noch kalt in Berlin, so kurz vor Ostern, auch wenn anderswo der Frühling bereits Einzug gehalten hat.
Anderswo. Ich bin auf der Suche nach diesem Anderswo so lange ich denken kann. Und nun habe ich es gefunden. Mein Herz schlägt schneller als ich an dich denke. Seit du vor wenigen Wochen in mein Leben getreten bist, denke ich nur noch an dich. Du bist meine Erlösung, du bist das, auf was ich immer gewartet habe. Der Zug wird mich zu dir bringen und schon heute werden wir uns in den Armen liegen und ineinander verschmelzen. Dabei weiß ich nicht einmal, wie du aussiehst, ja ich kenne nicht einmal deinen richtigen Namen. Ich habe nur das Bild deines Mundes, das du mir geschickt hast, vor Augen. Dieser schöne starke Mund, der mein Schicksal sein wird.

Ein älterer Herr blickt über eine Zeitung zu mir herüber. Es ist mir unangenehm und ich schaue bemüht in eine andere Richtung. Dieses kleine fiese Gefühl kriecht wieder in mir hoch. Dieses Gefühl, das mir immer wieder sagt, dass ich hier nicht hingehöre, dass ich nirgendwo hingehöre. Ich will einfach nur weg sein, einfach verschwinden, als ob es mich nie gegeben hätte. Nur meine totale Vernichtung kann am Ende meiner Reise zu dir stehen, ich will aus dem Leben scheiden ohne eine Spur zu hinterlassen. Nichts soll von mir übrig sein. Ich bin Cator, geboren als Fleisch.

Der Zug fährt ein. Wie eine Schlange findet er seinen Weg aus der Kurve in den Bahnhof und verlangsamt seine Geschwindigkeit bis er sanft vor mir stehen bleibt. Mit einem leisen Zischen der Pneumatik öffnet sich die Tür und mehrere Menschen werden vom dunklen Innern des Abteils auf den Bahnsteig gespuckt. Sie hasten achtlos an mir vorbei und ich lasse sie gewähren. Dann ist der Weg frei und ich steige in das dunkle Maul. Der Zug zieht mich in sich hinein, schluckt mich mit Haut und Haaren. Er nimmt mich in seinem warmen Bauch auf und wird mich gleich von hier wegbringen. Ich denke an dich und deinen starken Mund. Auch du wirst mich in dich hineinziehen, mich mit Haut und Haaren schlucken, mich in deinen warmen Bauch aufnehmen und mich weg von hier bringen.
„Franky“ nennst du dich und du kommst aus Rotenburg, das ist alles, was ich über dich weiß. Ich bin Cator und ich bin dein Fleisch, das ist alles was du über mich wissen musst.

„Suche jungen, gut gebauten Mann, der sich von mir gerne fressen lassen würde. Aussagekräftige Körperfotos erwünscht“, hattest du geschrieben.
„Ich hoffe, Du meinst es wirklich ernst, weil ich es wirklich will“, erwiderte ich daraufhin.
Seit ich dich im „Cannibal-Café“ im Internet kennenlernte, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass es endlich passiert. Ich möchte von dir geschlachtet und gegessen werden. Nichts soll von mir übrig bleiben, nichts soll daran erinnern, dass es mich gegeben hat. Ich möchte meine ewige Ruhe in deinem Mund finden, in deinem Magen, in deinen Eingeweiden. Ich möchte dabei sein, wenn du mich schlachtest, ich möchte miterleben, wie du mir Körperteile abschneidest, sie kochst und brätst und zu dir nimmst. Ich möchte dabei sein, wenn du mich verspeist.
Der Zug setzt sich jetzt in Bewegung. Du wirst mich in Kassel abholen und dann nach Rotenburg in deinen Schlachtraum bringen, den du mir so ausführlich beschrieben hast. Ich weiß nicht, wie du aussiehst, doch ich weiß, dass wir uns am Bahnhof erkennen werden.

Du bist mein Schicksal, das Ende meines langen Weges. Und ich bin Cator, ich bin dein Fleisch.

 


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Jochen Pogrzeba.

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