Arne H. Schneider – Der Schrei-Traum

Die überwiegende Zahl der Menschen kann sich meist nur bruchstückhaft an das erinnern, was sie während des Schlafes geträumt haben. Der Unterschied, warum meine Träume sich von denen der meisten Menschen unterscheiden, besteht zum einen darin, dass ich sehr lebhaft träume – und dass meine Träume wiederkehren. Genauer gesagt handelt es sich um einen bestimmten Traum, der mich regelmäßig heimsucht und der sich endlos wiederholt, so sehr ich mich auch bemühe, von ihm loszukommen – und das seit meinem siebten Le-bensjahr. Er birgt Angst und Traurigkeit, denen ich mich tagelang nicht entziehen kann.
Ich nenne ihn den Schrei-Traum.

In diesem Traum gelange ich durch das halboffene Tor ins Innere einer Schmiede, deren Dach lichterloh brennt. Sofort bin ich von beißendem Rauch eingehüllt. Rauch und Hitze treiben mir Tränen in die Augen. Vereinzelt fallen brennende Holzteile aus dem Gebälk über mir herab. Es sind die Schreie eines Menschen, die mich – jeder Gefahr zum Trotz – hierher geführt haben. Der Gestank ist entsetzlich. Er geht von einem Pfer-dekadaver aus, der mit aufgeschlitzter Bauchdecke neben dem Löschtrog liegt, von den Hufspänen, die im Feu-er verkohlen und von verbranntem Fleisch und versengtem Haar. Ein Mann liegt mit verrenkten Gliedern neben einem riesigen Amboss. In seiner Rechten umklammert er noch einen langstieligen Hammer, mit dem er sich seinen Angreifern zur Wehr gesetzt hat. Auf Stirn und Scheitel klaffen schreckliche Wunden. Es kostet mich gro-ße Überwindung den Blick nicht abzuwenden. Ich zwinge mich, über den Toten hinwegzusteigen, um in den hinteren Teil der Werkstatt zu gelangen. Von dort kommen nach wie vor die Schreie. Durch Dunstschwaden und das Lodern der Brände erkenne ich, im Rauchfang der Schmiedeesse hängend, einen großen Jungen. Er baumelt halbnackt und mit auf den Rücken gebunden Händen an einer Kette mit dem Kopf nach unten. Teile seines Gesichts und die Kopfhaut sind eine einzige rußig-klebrige Masse. An den Schultern und den restlichen Kleiderfetzen züngeln Flämmchen. Seine Haut ist über und über von Brandblasen bedeckt. In dem Versuch, seinen Kopf von der Glut fernzuhalten, bäumt er unentwegt und brüllend vor Schmerz seinen Oberkörper auf, bevor dieser erschlafft zurückgleitet.
»Miklas!«
Starr vor Entsetzen schreie ich den Namen, als ich erkenne, wer dieser grausamen Folter ausgesetzt ist. In mir tobt ein starker innerer Kampf. Ohnmächtiges Entsetzen hat mich gepackt. Mein Kinn fängt an zu beben, Tränen schießen mir in die Augen. Ich unterdrücke mit aller Macht den Impuls mich umzudrehen und zu flie-hen. Mein nächster Gedanke ist: Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Vielleicht kann ich Miklas vor einem schrecklichen Tod bewahren.
Es muss schnell gehen. Zwei, drei Schritte trennen mich von der Esse. Hustend und den linken Arm schüt-zend vor Gesicht und Augen halte ich nach einem Werkzeug Ausschau, mit dem ich seine Hände freibekommen kann. Die Luft flimmert vor Hitze. Rauchschwaden nehmen mir die Sicht. Ich mache ein paar Schritte und bü-cke mich schließlich nach einer großen Zange, die links neben der Esse im Staub liegt. Ein seltsames Zischen und ein gellender, markdurchdringender Schrei lassen mich hochfahren. Unmittelbar vor der Esse steht eine Frau in einem schwarzen Lederharnisch. Ihr Lachen und ihre Augen sind eine von Brandblasen und geronne-nem Blut entstellte Fratze aus Bosheit und Hass. Mein Blick fällt auf einen Schürhaken in ihrer Rechten, von dessen spitzem Ende in glühend hellem Rot ein Rauchfähnchen emporkräuselt.
Die schwere Zange umklammert, werfe ich den Kopf herum und begreife: Miklas’ entstelltes Gesicht, darin überdeutlich seine Augen oder das, was von ihnen übrig ist – nur mehr zwei ausgebrannte, blutig-schwarze Höhlen über einem weit aufgerissenen Mund!
Ich höre die Schreie, scharf wie Messerklingen, die nicht enden wollen, bis ich erkenne, dass sie aus meiner eigenen Kehle dringen.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Arne H. Schneider.

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