Christiane Portele – Spiel mit dem Feuer

„Ich bin hochsensibel!“
„Die Frage war, was ihre Stärken und Schwächen sind. Bitte präzisieren Sie ihre Antwort“, werde ich aufgefordert.
„Mein Antwort war sehr präzise“, erwidere ich, „meine ausgeprägte Empathiefähigkeit ist meine größte Stärke und meine größte Schwäche zugleich!“
„Das müssen Sie uns jetzt bitte erläutern!“, meldet sich die andere Stimme zum ersten Mal zu Wort.
„Ich kann mich in mein Gegenüber hineinfühlen, fühlen was er oder sie fühlt, empfinden, was er oder sie empfindet. Das erlaubt mir, Rückschlüsse darüber zu ziehen, wie mein Gegenüber möglicherweise reagieren wird. Gleichzeitig drängt mir diese Fähigkeit geradezu alle Emotionen meines Gegenübers auf, die es als sehr stark und überwältigend empfindet. Wenn ich mich dagegen nicht abgrenze, kann dies dazu führen, dass es mich am logischen Denken und damit an einer objektiven Analyse der Situation hindert. Das Abgrenzen muss rechtzeitig geschehen und erfordert ein hohes Maß an Disziplin und Energie.“
„Beeindruckend“, lautet der etwas trockene Kommentar der ersten Stimme. Ich spüre, dass da eine Ironie mitschwingt, eine gewisse Ungläubigkeit. Dass sie sich nicht sicher ist, ob sie das glauben soll.

„Bitte geben sie uns ein Beispiel.“ Das kommt von der zweiten Stimme.
„Als in der Klasse meiner Tochter ein Kind mit akuter Leukämie diagnostiziert wurde, traf ich die Mutter im Supermarkt. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Diagnose. Noch bevor sie zu sprechen begann, konnte ich die Angst, den Schmerz und die Wut, die sie zu überrollen drohten, körperlich spüren.“ Ich achte darauf, sie nicht hören zu lassen, dass mich diese Erfahrung immer noch so stark berührt, wie wenn es meine eigenen Gefühle gewesen wären, die mich damals mit voller Wucht getroffen hatten.
Keine Antwort.

Ich bin zum ersten Mal während dieses Gesprächs etwas irritiert.
Glauben sie mir etwa nicht? Ich richte meine feinsten Antennen auf sie aus und beschließe, alles auf eine Karte zu setzen.
„Soll ich Ihnen ein weiteres Beispiel für meine Fähigkeiten demonstrieren“, frage ich sie.
Ich weiß nicht, ob das als Köder ausreicht. Aber wenn ich die zwei richtig einschätze, schnappen sie in Kürze zu. Ob allerdings sie am Haken baumeln werden oder ich ins Wasser gezogen werde, vermag ich nicht abzuschätzen.
Ein Räuspern. Ein Hüsteln.
Dann die zweite Stimme: „Was fühle ich gerade?“
Sie hat angebissen. Ich weiß nicht, ob ich triumphieren soll oder zurückrudern. Es ist ein Spiel mit dem Feuer.
„Wollen Sie das wirklich wissen? Sind Sie sich sicher? Es könnte unangenehm sein, wenn Ihr Partner erfährt, was Sie gerade denken!“ Jetzt spiele ich wirklich mit dem Feuer. Es könnte heiß werden, mich versengen, mich völlig verzehren.
Ich habe sie schon immer geliebt, diese Nähe zum Feuer. Das Austarieren des richtigen Abstands, um von der Wärme zu profitieren, sie fast schon unangenehm heiß auf meiner bloßen Haut zu spüren, aber nicht nahe genug, um mich zu verbrennen. Meine Mutter holte mich immer vom Feuer weg. Sie hatte Angst um mich. Traute mir nicht zu, die Entfernung richtig einzuschätzen. Fürchtete, ein Funke könnte mich treffen, meine Haare oder meine Kleidung in Brand setzen.


Das leichte Schaben einer Hose auf dem Stuhl, das etwas nervöse Ändern der Sitzposition kündigt mir an, dass sich mein Gegenüber auf seine Antwort vorbereitet. Noch ist es nicht entschieden. Ich bin gespannt auf die Antwort.
„Ach was“, schaltet sich die erste Stimme ein. „Wir brauchen keine Beweise. Das sind doch nur Psychospielchen!“
„Na gut“, antwortet die zweite Stimme nach kurzem Zögern und ich meine, so etwas wie Erleichterung herauszuhören.
Ich fühle, wie eine Art nonverbaler Kommunikation zwischen ihnen stattfindet. Unsichtbar, auf Gedankenebene. Sie scheinen sich sehr gut zu kennen, exzellent aufeinander eingespielt zu sein. Erstaunlich, dass sie auf der Suche nach einer Psychologin sind, um ihr Team zu ergänzen. Wenn sie sich für mich entscheiden sollten, würde ich Kommissarin! Das wäre ein großer Erfolg für mich.
Es erstaunt mich, dass sich das Bewerbungsgespräch auf diesen Austausch beschränkt. Ich hätte Fragen zu meiner bisherigen Arbeit erwartet. Oder zu meiner Person. Eigentlich vor allem zu meiner Person. Aber mit meiner Antwort habe ich ihnen den Wind aus den Segeln genommen. Damit habe ich sie überrascht. Damit haben sie nicht gerechnet.
Ich spüre, wie die Stimmung sich verändert, ganz unterschwellig und subtil nur, für mich jedoch deutlich erfassbar.
Jetzt kommt sie also doch noch, die Frage zu meiner Person. Ich bin gespannt, wie sie es angehen. Es ist eine diffizile Angelegenheit. Eigentlich haben sie sich schon entschieden, ob sie mir die Stelle geben. Sie wissen es nur noch nicht. Sie brauchen diese Frage, um ihre Entscheidung zu rechtfertigen.
Ich warte.


Ich stelle mir die Flammen eines Lagerfeuers vor, wie sie um die Holzscheite züngeln, sich zischend in die Rinde fressen. Ich liebe dieses Geräusch. Es hat für mich etwas sehr Meditatives und Beruhigendes. Der Gedanke daran hilft mir, geduldig zu bleiben. Ihnen die Zeit zu geben, Ihre Frage zu formulieren. Sie tun mir schon fast leid!
„Werden Sie in der Lage sein, trotz Ihrer – uhm – körperlichen Besonderheit Ihre Arbeit in unserem Team zu bewältigen?“ Die erste Stimme.
Sie haben den direkten Weg gewählt. Hut ab! Das hätte ich ihnen fast nicht zugetraut.
„Ja“, entgegne ich resolut, greife nach meinem Blindenstock und erhebe mich.
„Wir haben Ihnen unsere Entscheidung noch nicht mitgeteilt“, stellt die zweite Stimme etwas überrascht fest.
„Ich weiß, dass ich den Job habe! Ich nehme ihn an“, erwidere ich, drehe mich um und verlasse den Raum.
Das Spiel mit dem Feuer hat sich gelohnt.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Christiane Portele.

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