Manchmal rannen die staubfeinen Tröpfchen in Charlies Haaren zu einem großen Tropfen zusammen, der sich seinen Weg entlang ihres Nackens bis unter den hochgeschlagenen Kragen der Wetterjacke suchte oder nach kurzem Zögern von ihrem Gesicht in den grauen See fiel.
Charlie versuchte sich vorzustellen, wie es für einen Tropfen sein mochte, in den See zu stürzen. Vermutlich wurde er beim Aufprall auf die tanzende Wasseroberfläche in tausend Stücke zerrissen, aber vorher? Wenn sich die Tropfen von ihrem Gesicht lösten, glaubte Charlie zu erkennen, wie sie immer breiter und runder wurden, und sie fragte sich, ob die Tropfen wohl zu perfekten Kugeln wurden, ehe sie auf dem Wasser aufschlugen. In der Schule hatten sie einen Film von einer Weltraummission gesehen, in dem die Astronauten Kugeln aus Milch tranken, und die Klassenlehrerin hatte erklärt, dass Wasser und andere Flüssigkeiten am liebsten kugelrund waren.
Hier auf der Erde, überlegte Charlie, während der nächste Tropfen aus ihrem Pony in den See fiel, war das Wasser ständig gezwungen, seine wahre Gestalt zu verbergen. Immer gab es Kräfte, die die Kugelform zerstörten. Nur in der Luft, in diesem kurzen Moment, wenn sie sich von Charlie gelöst hatten und noch nicht im See gelandet waren, waren die Wassertropfen frei, oder zumindest beinahe. Und eigentlich war Charlie sich sicher, dass es sich für diesen Moment lohnte, den Aufprall zu ertragen.
Vielleicht waren die Tropfen der Grund, weshalb sie hier saß. An diesem letzten Tag vor der Rückfahrt nach Deutschland, nur eine gute Woche, bevor die Realschule sie erwartete, hatte schon morgens der Regen begonnen. Beim Frühstück hatte der Kellner Charlies Eltern in einer Mischung aus Deutsch und Italienisch erklärt, nun sei der Sommer endgültig vorbei, und mit wissendem Nicken hatten die Erwachsenen einen Moment lang aus dem Fenster in den grauen Himmel gesehen.
Charlie hatte erst Minuten später begriffen, dass sie nun keine Gelegenheit mehr hatte, mit den Jungen aus dem Dorf auf die Brücke zu gehen. Fast drei Wochen lang hatte sie diesen Moment hinausgezögert, immer wieder auf den nächsten Tag verschoben, bis der letzte aller Tage den Regen in das Dorf brachte. Obwohl sie ahnte, dass ihr auch an jedem weiteren Tag ein Grund eingefallen wäre, nicht von der kleinen Brücke in den See zu springen, fühlte sie sich seltsam betrogen. Vielleicht hätte sie es heute doch gewagt, dachte sie, vielleicht hätte sie gerade an diesem Tag den anderen zeigen können, dass sie ebenso mutig war … doch natürlich waren die Jungen aus dem Dorf bei diesem Wetter zu Hause geblieben. Denen blieben ihre Erinnerungen an die Tage voller Abenteuer, sie hatten nichts versäumt.
Charlie spuckte in den See. Die Spucketropfen gingen unter und verschmolzen mit den Wellen, die den See bedeckten. Charlie stellte sich vor, wie es gewesen wäre, wenn heute noch einmal die Sonne geschienen hätte. Links und rechts von ihr hätten die Jungen gesessen, mit denen sie fast drei Wochen verbracht hatte. Mädchen waren nie mit zur Brücke gekommen, keine außer Charlie. Auch die beiden Mädchen aus ihrem Hotel, die sie manchmal beim Frühstück gesehen hatte, waren lieber mit ihren Eltern in die nächste Stadt oder ans Meer gefahren. Nur Charlie hatte der kleine, versteckte See nahe dem Hotel immer wieder angezogen, schon seit dem ersten Tag, als sie dem Rufen und Lachen der fremden Kinder gefolgt war. Und nun, nach fast drei gemeinsamen Wochen mit den italienischen Jungen, blieb ihr die Erinnerung an das größte Abenteuer verwehrt, das der See zu bieten hatte. Auch die anderen Kinder hatten gezittert, gewartet, sich hin und her entschieden, wenn sie auf dem Brückengeländer gesessen und hinuntergesehen hatten, und doch waren sie alle gesprungen. Jeder von ihnen, an jedem einzelnen Tag. Niemand hatte Charlie dazu aufgefordert, sie durfte auch ohne diese Mutprobe mit den anderen spielen und um die Wette schwimmen, und auch so teilten die Jungen die Äpfel und Bonbons mit ihr, die sie aus Gärten gestohlen und im Dorfladen geschenkt bekommen hatten. Den fremden Jungen hatte sie nichts beweisen müssen. Was ihr fehlte, war nur die Erinnerung.
Und als sie das begriffen hatte, war alles andere ganz leicht. Sie fror nicht, als sie die durchnässte Jacke auszog, aus den Turnschuhen schlüpfte, T-Shirt und Jeans abstreifte und für einen Moment nur in Unterhose auf der Brücke stand, die Hände fest am Geländer. Dann kletterte sie auf die hölzerne Brüstung, wie es die Jungen aus dem Dorf immer gemacht hatten, blieb dort einen Moment sitzen und sah hinunter in den grauen See.
Die Brücke war nicht hoch, doch in diesem Moment war sie sich ganz sicher, dass es reichte und jeder Wassertropfen eine perfekte Kugel wurde, frei von allen Kräften, ehe er auf die Wasseroberfläche prallte.
Dann breitete sie die Arme aus und sprang.
Und wirklich, es genügte.
Zuerst veröffentlicht in „Literatur-Feder Magazin 5“, 2007.
Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Andrea Tillmanns.