Johannes Tosin – Jinx

Es ist das weltweit erste Gebäude, das höher als eine Meile ist. Es umfasst 372 Etagen. Sein Name ist Jinx. Eine Firma ist in ihm untergebracht.
In der Cafeteria in der 324. Etage sitzen während der Mittagspause zwei Angestellte beisammen.

Mara: Es ist nicht so, wie Sie denken.
Ed: Woher wollen Sie wissen, was ich denke?
Mara: Es ist bei allen gleich, wissen Sie, Herr Mueller. Sie sind heute erst den zweiten Tag hier, in dieser Etage und überhaupt bei Blossom Inc. Ich arbeite schon lange hier, ich habe schon viele wie Sie erlebt. Sie denken etwas in der Art von: Wow, das ist toll hier!
Ed: Richtig, das haben Sie mich erwischt. Aber ist es denn ein Fehler, das zu denken?
Mara: Es ist ja auch schön hier, sauber und sonnig. Ich kann nachvollziehen, dass Sie sich anfangs in erster Linie einfach nur wohlfühlen. Sagen Sie, wohnen Sie in der Stadt?
Ed: Tue ich, ja. Warum fragen Sie?
Mara: Ich wohne auch in der Stadt. Es ist schon Jahre her, dass ich von dort die Sonne gesehen habe. Die Luft ist sehr stark belastet und riecht ungesund. Der feine Staub fängt sich im Nebel. Und der Regen, dieser ewige Regen. Er spült den Dreck von den schmutzigen Wolken in den Boden, in den Asphalt und die wenige Erde. Es gibt nur noch zwei kleine Parks. Die Bäume verenden sowie fast alle Blumen. Die Lebenserwartung beträgt kaum 50 Jahre. Wie alt sind Sie denn, Herr Mueller?

Ed: Was Sie nicht alles wissen wollen, okay, ich sage es Ihnen: Ich bin 34.
Mara: Da haben Sie sich, wie es scheint, bis jetzt gut verkauft.
Ed: I hope so. Und wie alt sind Sie, Mara?
Mara: Jetzt muss ich es Ihnen wohl verraten. Ich bin 49.
Ed: Oh.
Mara: Hätten Sie gedacht, ich bin jünger?
Ed: Ja, schon. Aber als Chefsekretärin muss man ja auch mit seinem Aussehen punkten, das können Sie bestimmt, und dazu gehört auch, jung und frisch auszusehen.
Mara: Danke. Sie sind Realist. Damit haben Sie eine Chance davonzukommen. Sie wissen doch sicher: Für alles, was man bekommt, muss man bezahlen. Nichts ist umsonst.
Ed: Außer die Liebe.
Mara: Sehr witzig, gerade die kostet.
Ed: Dann haben Sie noch ein Jahr, um die Gewinne einzufahren.
Mara: Vielleicht auch zwei oder drei. Ich wohne schon mein ganzes Leben in der Stadt. Die Stadt macht krank. Ich habe es nie geschafft, meinen Wohnort aus ihr zu verlegen. Während der Arbeitszeit bin ich hier und lebe gesund, aber sobald ich in die Stadt und nachhause komme, atme ich verseuchte Luft, trinke kontaminiertes Wasser, und das Essen ist künstlich, und nicht für Menschen gemacht, aber in der Stadt gibt es nichts anderes. Und übrigens: die Gewinne, die ich einfahre, sind bescheiden.
Ed: Das klingt alles sehr negativ.
Mara: Es ist, wie es ist, und das ist in meinem Fall und in dem fast aller bestimmt nicht positiv.

Mr. Mockingham spaziert auf Ed und Mara zu. Er ist Eds Chef, Mara ist seine Sekretärin.

Mr. Mockingham: Hello, Herr Mueller, hello, Mara. Lassen Sie sich nur nicht von Mara bezirzen, ich warne Sie, sie ist sehr gut darin.
Ed: Das glaube ich gerne, Herr Direktor. Aber ich bin glücklich verheiratet, an mir perlt alles ab.
Mr. Mockingham: Das sagt jeder.
Mara: Nicht unbedingt, Josh. Will jemand bei einer Frau landen, ist er unglücklich verheiratet, er lebt dann praktisch schon in Scheidung.
Mr. Mockingham: Mara, du hast wieder einmal Recht, so wie immer. Sie sehen, Herr Mueller, zwischen Mara und mir führt sie das Wort. Hahaha.
Ed: Hahaha.
Mr. Mockingham: Und glauben Sie ja nicht alles, was sie Ihnen erzählt.
Ed: Natürlich nicht.

Mr. Mockingham klopft Ed auf die Schulter. Er verlässt die Cafeteria.

Mara: Das ist Josh. Er ist ein wahrer Rattenfänger.
Ed: Dann bin ich die Ratte.
Mara: Die könnten Sie sein.
Ed: Sagen Sie, Mara, wie erging es eigentlich meinem Vorgänger?
Mara: Hat sich umgebracht.
Ed: Im Ernst?
Mara: Ja, sicher, ich scherze nicht.
Ed: Wieso denn?
Mara: Vielleicht verzweifelt, oder schwer deprimiert, Wir wissen es nicht. Ein Selbstmörder hat immer Gründe, die für ihn schlüssig sind. Für die anderen sind sie völlig unverständlich.
Ed: Wie hat er es getan?
Mara: Er ist gesprungen.
Ed: Von wo denn? Man kommt doch vom Haus nicht ins Freie.
Mara: Doch, tut man, über die Hubschrauberlandeplätze. Der nächste ist außerhalb der 330. Etage.
Ed: War jemand dabei?
Mara: Nein, Dave Collister, das war sein Name … Bekannt?
Ed: Nein, ich höre ihn das erste Mal.
Mara: Also, Dave war plötzlich weg. Und er tauchte nicht mehr auf. Von dieser Etage sieht man ja nicht hinunter, die schmutzigen Wolken sind dazwischen. Leute vom Boden haben seine Leiche gefunden.
Ed: Das ist tragisch.
Mara: Für Dave ja, aber für Sie ist es ein Glück. Wäre Dave noch hier, wären Sie es nicht.
Ed: Was soll ich sagen?
Mara: Sagen Sie einfach: So ist es.
Ed: Etwas anderes: Wie ist denn so der Big Boss?
Mara: Mr. Prentiss, meinen Sie? Ich habe ihn noch nie gesehen.
Ed: Wie bitte, noch nie?
Mara: Nein, wir sind uns gar nicht sicher, ob er überhaupt existiert, ob er am Leben ist, oder ob es ihn jemals gegeben hat. Er ist ein Mythos. Angeblich treffen ihn die Mitglieder des Vorstands manchmal, oder auch nur gelegentlich, es liegt im Unklaren. Auch die Ebene von Josh Mockingham ist viel zu niedrig, um von ihr irgendwelche Mutmaßungen anzustellen.
Ed: Aber irgendjemand muss sich doch in dieser rundum verglasten Penthouse-Büro-Etage aufhalten.
Mara: Ja, Leute, die saubermachen, Wartungstechniker. Praktisch würde es keinen Unterschied machen, ob es Mr. Prentiss gibt oder nicht.
Ed: Ja, das kann ich mir vorstellen. Wer die Zügel in der Hand hält, ist ja letztlich gleichgültig.
Mara: Es können auch mehrere Leute sein, oder auch alle. Die Firma kann sich auch selbst organisieren. Jeder arbeitet in einem bestimmten Bereich, und die Abteilungsleiter fügen die Bereiche zusammen. Die Oberabteilungsleiter fügen die Bereiche auf höher Ebene zusammen, und so geht es weiter bis ganz nach oben. Sehen Sie, das Gebäude, Jinx, und die Firma sind ja eins. Es beginnt bei der Ebene, wo unter harten Bedingungen die Basiskomponenten gefertigt werden, in den höheren Etagen werden sie zusammengefügt. Dann kommt Forschung & Entwicklung, Verkauf, Marketing, Finanzabteilungen, Geschäftsführung, es geht immer weiter. Und je höher man als Angestellter ist, desto gesünder lebt man, desto besser kann es einem gehen, wenn man dem Druck standhält.
Ed: Ich verstehe.
Mara: Ja, ich denke das tun Sie. Sie wurden ja auch nicht willkürlich ausgewählt.
Ed: Sagen Sie, Mara, wenn ich Sie das fragen dürfte, aus Interesse, nicht aus Absicht: Haben Sie Kinder?
Mara: Nein, ich war immer beschäftigt. Aber ich habe Eizellen einfrieren lassen. Es wäre also noch möglich. Aber ich habe ja nicht mehr allzu lange zu leben.
Ed: Aber vielleicht doch, man kann ja nie wissen …
Mara: Schauen Sie, ich lebe in der Stadt, da ist die persönliche Lebenszeit bald verbraucht. Ich mache mir keine Illusionen. Der entscheidendste Lebensfaktor ist Ihr Wohnbereich. Ich rate Ihnen, versuchen Sie alles, dass Sie mit Ihrer Frau, ihrem Sohn und ihrer Tochter aufs Land ziehen.
Ed: Woher wissen Sie, dass ich Familie habe?
Mara: Denken Sie, ich kenne Ihre Akte nicht? Das gehört doch zu meinen Aufgaben. Ich habe natürlich auch Ihr Alter gewusst.
Ed: Verständlich, ja, war etwas naiv von mir. Können Sie mir vielleicht erzählen, Mara, wie steht es um Mr. Mockingham?
Mara: Familiäre Daten gebe ich Ihnen keine, aber, ja, er wohnt außerhalb der Stadt, in Drossenham, schon seit Langem, in seiner Freizeit bewirtschaftet er einen Weinberg von einem halben Hektar. Können Sie sich das vorstellen, Weinreben gedeihen dort? Und er kommt mit dem Hubschrauber, die Firma hat ihm einen zu seiner ständigen Verfügung bereitgestellt, mit Pilot, und natürlich Air Condition. Josh lebt gesund. Er wird sehr alt werden, außer einer seiner Feinde verübt erfolgreich einen Anschlag auf ihn. Er ist ein Erfolgstyp. Er hat es – bis jetzt – geschafft.

Mara sieht Ed nun gerade in die Augen, die blau sind wie ein tiefer See. Es sind schöne Augen, denkt sie.

Zum Abschluss sage ich Ihnen eines klipp und klar, Herr Mueller: Entweder Sie werden es hier weit bringen, oder Sie sind der Nächste, der springt.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Johannes Tosin.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert