Lesego Mosupyoe – Begegnung

Sie atmete erleichtert auf. Dabei spürte sie, wie sich ihr Körper entspannte und sich ihr Herzschlag verlangsamte. Dann ließ sie ihre Augen abermals zu dem Fremden hinüberschweben. Das Mahl war beendet, der Gastgeber hatte in den Garten geladen. Der Unbekannte aber war im Haus geblieben und hatte sich zu den Gemälden begeben. Ihm schienen Bilder mehr zu behagen als Mitmenschen. Seltsam. Doch war seine Sperrigkeit zugleich ihre Rettung. Während des Essens hatte sie mit der Frage gerungen, wie sie seine Nähe suchen könnte. Denn schon nach dem ersten Blick hatte die Neugier an ihrer Geduld zu nagen begonnen. Gleichzeitig hatte sie die Sittlichkeit wahren müssen. Sogar ihre Leibspeise hatte sie mehr aus Höflichkeit denn aus Genuss zu Munde geführt. Nun war ihr aber die Lösung endlich beschert worden: Als eine Tochter des Hauses durfte sie ihm eine Erfrischung anbieten.

Das Getränk nahm er in der üblichen Manier entgegen. Der reichhaltige Duft tat ihm wohl. Dieser sprach für eine gediegene Verbindung der Zutaten. Alsbald erfreute sich seine Zunge einer vorzüglichen Mischung, die mit jeder Umwälzung neue Feinheiten erschloss. Ebenfalls erquicklich war der Anblick der Dame. Das angenehme Antlitz schmückte ein hübscher Mund. Den wohlgebauten Körper schützte eine zarte, seidene Haut. Die Kleidung – äußerst geschmackvoll. Am schönsten waren aber ihre Augen … Er genoss schweigend.

Sie durstete nach Unterhaltung. So lenkte sie das Wort auf die Gemälde. Diese gefielen ihm wohl. Denn er begann mit überraschender Unbefangenheit zu reden. Er lobte die geschickte Hand des Malers, wies auf mannigfache Farben und Schattierungen hin. Sie hörte ihm gern zu. Denn seine Worte waren Musik. Gleichzeitig suchte sie eine gewisse Unbehaglichkeit zu zähmen. Ihr taten die armen Wesen leid, die hinter Zeitfenstern eingesperrt waren: erschöpfte Männer, die in endlosen Schlachten fochten – Greise, die die Augen nicht schließen konnten; dort ein traurig lächelndes Mädchen, das weder Verlangen noch Mutterschaft kennen würde. Blüten und Bäume, die nichts heißer ersehnten als Welken und Sterben … Das Entzücken weiß auch den gewaltigsten inneren Zwist zu begraben. Um das reizende Mannsbild zu besehen, ließ sie die Tortur über sich ergehen. Jede Bewegung seiner Lippen raubte ihr den Atem und schenkte ihr zwei Leben.

Zu ihrer Erleichterung lud er sie schließlich zu einem Spaziergang ein. Man entschied sich für den Pfad, der Vorderhof, Wäldchen und Seeufer zusammenhielt.

Sie hätte mit geschlossenen Augen gehen können. Das Anwesen des Oheims war ihr seit frühester Kindheit vertraut. In diesem Gehölz hatte sie oft und gern gespielt. Hier hatte sie sich am Abend ihrer Unschuld in die Arme eines holden Jünglings geträumt. Zudem hatte ihr der Ort in schweren Zeiten Schutz und Labung gegeben. Nun ging sie hier neben dem freundlichen Fremden. Sie wusste sich gern in seiner Gesellschaft. Seine Gangart versprach auf gute Wege zu geleiten. Zweifelsohne wusste dieser Mann, dass Tadel ohne Schläge möglich ist. Gewiss begriff er, dass Männlichkeit nicht nur zwischen den Beinen haust; dass Mäßigung kein Zeichen von Schwäche ist. Sie vertraute mehr und mehr, ihm zu gegebener Zeit auch ihre Narben zeigen zu können.

Es gibt keinen größeren Schmerz als der einer Herzwunde. Die Erinnerung an die unglückliche Ehe war wie ein Gespenst. Zuweilen flog sie blitzschnell vorbei, bisweilen grölte sie ohne Unterlass. Am schlimmsten waren die ersten Monate nach der Scheidung gewesen. Damals hatte das Gespenst unaufhaltsam geschrien, hatte tagaus, tagein mit Messerzähnen das Herz der Unglücklichen zerstochen, zermürbt. Der Schmerz hatte sich im ganzen Körper verbreitet. Die Sinne hatten mehrmals gedroht Lebewohl zu sagen. Die Verlorene hatte mit beinahe jedem Sonnenuntergang erwogen, sich selbst ebenfalls einen Stich zu versetzen – jenen Stich, der nach kurzem Weh ins Paradies führt …

Ein Herz blutet dann am stärksten, wenn es von der eigenen Mutter gespießt wurde. Nach einigen Monden war der einstige Hofmann zum Ungeheuer geworden. Die junge Verheiratete hatte gehofft, sich an die Schulter der Mutter lehnen zu können. Doch diese war kälter gewesen als das Blut jenes Untiers, das in die Gemächer gekrochen war. Die Mutter hatte an Sittlichkeit gemahnt. Ihr war der Ruf der Familie das höchste Gut. Verzweifelt hatte die Tochter das Unwesen geduldet. Statt der erhofften Besserung war jedoch Verschlimmerung gekommen. Der Gemahl hatte die Hand noch öfter gehoben. Bisweilen hatte die Faulheit seiner Sprache jene des üblen Trunks überwogen. Das Tageslicht war erloschen, gierig hatte die Finsternis sämtliche Strahlen verschluckt. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte die Gequälte einen letzten Hoffnungsschimmer erkannt, nach langem Hadern den Mut zur Scheidung gefunden. Die Mutter war empört gewesen – hatte die Tochter eine Tugendlose gescholten, hatte mit Verstoßung gedroht.

Verstoßen: enteignet. Enteignung: Entgegnung – Entfernung – Entsinnen … Das Gemüt war ständig gerast, hatte zahllose Räume durchflogen. Entsinnen: Entdeckung, Entgegnung. Entsinnen, Entwaffnung … Das Wiedererleben der ersten Wonne hatte sich mit Schreckensbildern vermischt: Entwaffnung, Entgegenkommen, Entzücken, Entwaffnung, Entblößung … Entsinnen … Enthüllung, Entschleierung: Erbarmungslos hatten die Schreckensbilder das innere Auge zerkratzt. Enttäuschung, Entsetzen, Entführung: Der Liebestraum hatte sich in einen Nachtmahr verwandelt. Entsagung, Enthumanisierung … Entsinnen. Entkernung. Entschluss: entmachten, entwürdigen – entmächtigter Ritter. Entsinnen – Entkommen? Die Gedankenwelle hatte die Verlassene an den Rand eines Abgrunds geschleudert. Entsinnen … Entartung, Enteignung, Entmutigung, Entwurzelung … Entsinnen …

Das Herz war eine Totengrube, das Lächeln ein Schleier, die Stimme ein Nebenklang des endlosen innerlichen Geschreis …

Nun war sie aber im Elysium. Das Mondlicht schien die Dunkelheit zu vertreiben.

Die Unterhaltung empfand er als höchst angenehm. Die Sprache der Gesellin war namentlich von Gemessenheit, Leichtigkeit und Lebhaftigkeit gekennzeichnet. Er fühlte sich wie in seine Kindheit versetzt. Damals hatte er unermüdlich nach allem gejagt, was geflogen, gehüpft oder gekrochen war. Die vielfarbigen Blüten und Blätter, die von den Lüften getragen worden waren, hatte er ebenfalls zu Beute und Forschungsgegenstand gemacht. Nun durfte er auch die Worte der Anmutigen auffangen und untersuchen.

Am Gestade gingen sie langsam und meist schweigend nebeneinander. Ab und zu hielt er inne und bat sie anzuhalten. Denn er sah sich von mannigfaltigen Geheimnissen umgeben, die zu näherer Betrachtung einluden. Mal zeigte er auf unterschiedliche Konturen, die die Natur gezeichnet. Dabei schenkte er den Bergen an jenseitigen Ufern ebenso viel Aufmerksamkeit wie den Steinchen zu ihrer beider Füßen. Wieder wurde ihr Gefühl bestätigt, dass auch die kleinsten Dinge schön und reich sind. Mal suchte er den Rhythmus zu erklären, in dem die Brise die umstehenden Pflanzen bewegen ließ. Wo sie zuvor nichts außer blassem Gezweig gesehen hatte, erkannte sie nun einen anmutigen Tanz. Zudem spürte sie, wie sich die leicht stechende Kälte allmählich in eine Luftdecke verwandelte, die sie beschützte und wärmte. Den Wechsel der Gezeiten ließ er ebenfalls nicht unbemerkt.

Der Fluss seiner Worte breitete sich über den kahlen Sand aus. Sogleich badeten ihre Füße in dem warmen Strom. Sie sah zu, wie das Wasser entschwand und eine bunte Wiese hinterließ. Der Mond ward zur Sonne, und ringsum duftete es schöner denn je. Den Schmetterlingen in ihrem Bauch leisteten verschiedene Tierchen Gesellschaft, die allenthalben wohlig krabbelten, kletterten und kitzelten. Sie dankte ihm mit einer Zärtlichkeit, dann gingen sie gemächlich weiter.

Nach einiger Zeit kamen sie zu einem Nachen. Ihre Augen sprachen die Worte aus, die er zu formulieren begriffen war. Somit ward die Fahrt angetreten. Seine Ruderschläge vereinten männliche Kraft mit tadelloser Grazie. Gekonnt erschuf er kleine Wellen, die sich nach kurzzeitigen Kunststückchen der glimmernden Wasseroberfläche angliederten. Zeitenwogen. Sein strahlendes Antlitz spiegelte ihr inneres Licht. Er gewahrte ihren Herzschlag; dazu erklang aus der Nähe und Ferne jener Chor des schlummernden und erwachenden Lebens, den man Stille nennt. Sie frohlockte innerlich, aus seinen Armen wurden Flügel.


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