Andrea Tillmanns – Luises Lied

Spiel ein Lied für mich, sagt sie.
Yesterday mag sie am liebsten. Ich probiere Verzierungen, kleine Triller, zaghafte Improvisationen.
Heute spielst du besonders schön, sagt sie wie an jedem Abend und schläft lächelnd ein.

Luise ist ein hübsches Mädchen, mit ihren vierzehn Jahren schon sichtbar auf dem Weg zur Frau. Auf den ersten Blick sieht man ihre blonden Ringellocken, die Stupsnase und den etwas zu großen Mund, und erst, wenn man die verwachsenen Finger ihrer abgeknickten rechten Hand bemerkt, denkt man an Medikamente oder andere Ursachen. Dass Luise sehr allein ist unter den jungen Leuten hier, erkennt man da noch nicht.

Kennst du den Text dazu? fragt sie in der zweiten Woche.
Ich lege meine Gitarre beiseite und suche das Liederheft.
Aber das Singen musst du übernehmen, sage ich und schlage die richtige Seite auf.
Nur wenn du mitsingst, grinst sie. Aber das hat sie nach den ersten Tönen schon längst vergessen.

Ich würde gerne einen Talentwettbewerb oder ein kleines Musical organisieren, damit Luise zumindest einmal sieht, dass sie etwas besser kann als alle anderen. Aber Luise ist sehr schüchtern, schon kurze Gespräche mit den anderen Kindern und Jugendlichen bereiten ihr Mühe. Sie auf eine Bühne zu stellen, würde alles noch schlimmer machen. Die Realität gibt sich normalerweise keine Mühe, für ein Happy End zu sorgen.

Dieser Text hier ist hübsch, sagt sie.
Ich übe lange, bis ich das Lied spielen kann. Der Rhythmus ist nicht leicht, die Melodie noch weniger.
Spiel es noch einmal, sagt Luise, und dann singt sie es dreimal hintereinander, und immer fehlerfrei.

Auch die anderen Betreuer dieser Ferienfreizeit machen sich Sorgen um Luise. Wir überlegen, was man tun könnte, um sie besser in die Gruppe zu integrieren. Die Idee mit dem Tischtennisturnier verwerfen wir ganz schnell wieder, auf den gemeinsamen Wanderungen bleibt Luise stets ein wenig hinter den anderen zurück, und so fällt uns als letzte Möglichkeit nur ein Spieleabend ein. Aber Luise ist bald müde, sagt sie zumindest, und geht lange vor den anderen schlafen.

Kannst du das auch spielen? fragt sie und summt eine einfache Melodie.
Meine Finger greifen zu oft daneben, und so beschränke ich mich schließlich auf Akkorde.
Wie heißt das Lied? frage ich.
Ich weiß noch nicht, sagt sie und summt mit geschlossenen Augen ihre Melodie.

Luise sitzt oft alleine auf der Terrasse des Jugendhotels und sieht in die Ferne. Manchmal zeichnet sie mit der linken Hand die Umrisse der Berge nach. Sie wird nicht ausgeschlossen, sie scheint von sich aus die Einsamkeit zu suchen, als könne sie die vielen Menschen um sich herum nicht lange ertragen. Auch den anderen Betreuern tut Luise leid. Aber keiner von uns hat eine Idee, was man ändern könnte, um Luise ein wenig glücklicher zu machen.

Spiel die Akkorde noch einmal, sagt Luise.
Gibt es auch einen Text dazu? frage ich, während ich mich zu erinnern versuche.
Vielleicht, sagt Luise und bewegt stumm die Lippen im Takt meiner Gitarre.

Die Pyjamafete am letzten Abend ist Tradition. Die meisten Kinder und Jugendlichen wirken seltsam scheu. In kleinen Gruppen sitzen sie zusammen und reden, spielen, lachen. Zuerst begreife ich nicht, woher die Melodie kommt, die sich ganz leise in mein Ohr geschlichen hat. Aber sie wird lauter, viele Mädchenstimmen summen sie immer sicherer. Die anderen verstummen, hören zu, wippen vorsichtig mit Füßen oder Köpfen. Die Akkorde weiß ich noch auswendig, es ist kein schweres Lied, und auch der Text ist der Text einer Vierzehnjährigen, die vom Sommer in den Bergen singt, von Wanderungen und gemeinsamen Abenden. Es ist ein fröhliches Lied, fällt mir erst jetzt auf, obwohl ich es doch schon oft gehört und gespielt habe, keine Spur von Wehmut liegt darin. Die meisten Jungen trommeln den Takt auf Tischen oder umgedrehten Schüsseln, die Mädchen summen leise mit, und über allem liegt Luises kristallklare Stimme. Ich hatte befürchtet, sie zu überfordern, aber in Wahrheit habe ich sie weit unterschätzt.

Sing es noch einmal für mich, sage ich.
Nur, wenn du die Gitarre holst, grinst sie.
Aber das hat sie nach den ersten Tönen mal wieder längst schon vergessen.


Zuerst veröffentlicht in „Literatur-Feder Magazin 5“, 2007.

Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Andrea Tillmanns.

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