Andrea Tillmanns – Zwischen Ebbe und Flut

Wenn sie die Augen schließt und der Stille der Nacht lauscht, glaubt sie manchmal zu wissen, wie eine Muschel sich fühlt. Sie stellt sich vor, die Augen wieder zu öffnen und nur das Dunkel um sie herum zu sehen, das von ihren Schalen geformt wird, dazwischen ein schmaler Spalt, in dem der feine Sand des Wattes mehr zu erahnen als zu sehen ist.
„Na, wie geht es uns denn heute?“, fragt er, nicht unfreundlich, das ist es nicht, was sie innerlich zusammenzucken lässt. Das Wort „uns“, denkt sie, das wird es wohl sein. Bestimmt meint es der junge Mann nicht böse, doch bei jeder seiner Begrüßungen hat sie für einen Moment das Gefühl, dass sie eigentlich empört sein müsste über dieses kleine Wort, das so klischeehaft nach Alter und Unselbständigkeit schmeckt. Vermutlich, so hofft sie zumindest, ist er sich dessen gar nicht bewusst. Vielleicht würde sie ihn fragen, wenn es ihr noch gelänge, den Mund zu öffnen und die richtigen Laute zu formen. 

Sie hört ihm immer aufmerksam zu, wenn er mit ihr plaudert, während er sie wäscht und umbettet. Manchmal ist sie sich am Abend nicht mehr ganz sicher, wie das Mädchen hieß, von dem er am Morgen erzählt hat, und dann grübelt sie die halbe Nacht und verdammt ihr immer schlechter werdendes Gedächtnis. Am leichtesten erinnert sie sich an ihre Jugend. Diese Zeit erscheint ihr manchmal wirklicher als die Gegenwart, aus der sie immer wieder zu erwachen hofft, und immer ist es vergeblich.
An manche Tage erinnert sie sich besonders gut, und einige von diesen liegen erst kurze Zeit zurück, Wochen vielleicht oder wenige Jahre. Einmal, noch vor diesem Tag, an dem sie sich erstarrt und stumm in einem fremden Bett wiedergefunden hat, hat ihr Enkel aus einem Aufsatz vorgelesen, den er für den Biologieunterricht hatte schreiben müssen, über die Tiere in der Gezeitenzone. In dieser Nacht hat sie geträumt: Als junge Sandklaffmuschel hatte sie sich ihren Platz zwischen Ebbe und Flut gesucht und dort in den weichen Boden eingegraben. Tiefer und tiefer grub sie, so tief, dass ihre Siphons immer gerade eben noch zur Oberfläche reichten und sie mit Wasser versorgen konnten, das den lebenswichtigen Sauerstoff und Nahrungspartikel mit sich trug.
Vielleicht erinnert sie sich deshalb an diesen Tag, während sie längst vergessen hat, welches Kleid sie zur Kommunion ihrer jüngeren Enkelin getragen hat. Wenn sie nun die Augen öffnet, sieht sie ihre Siphons unter grellen weißen Sonnen hinter ihrem Kopf verschwinden, und doch müssen sie noch immer bis zur Oberfläche reichen, denn weder hungert sie noch glaubt sie zu ersticken. „Jetzt nur noch die Augentropfen“, sagt der junge Mann und lässt einige Tropfen in ihre Augen fallen, und nachdem sie für einen Moment die Orientierung verloren hat, sieht sie das Zimmer und den Pfleger wieder deutlicher. Zum Dank zwinkert sie ihm zu, wie jeden Morgen und Mittag und Abend, auch wenn sie nicht genau weiß, ob sie ihre Lider tatsächlich bewegt, doch er lächelt sie immer an, ehe er geht, und so hofft und zwinkert sie weiter.
Manchmal, wenn sie Augen und Ohren verschließt und sich wie eine Muschel fühlt, versucht sie den schmalen Spalt zuzuziehen, durch den der feuchte Sand ihr entgegendrängt, doch die Siphons blockieren ihre Schalen. Alte Sandklaffmuscheln, hat ihr Enkel damals vorgelesen, können ihre Siphons nicht mehr einziehen. Immer bleiben sie mit der Oberfläche verbunden, und immer lässt eine dünne Ritze die Welt zu ihnen durchdringen.
Die Uhr vorne links an der Wand gibt einen Takt vor, den sie lange schon nicht mehr versteht. Jeweils sechs Umläufe des einen Zeigers zwischen den Besuchen des jungen Mannes, den kürzeren Zeiger ignoriert sie. Aber das stete Pochen der Sekunden schafft sie nur manchmal zu überhören. Dieser Klang scheint ihr nachhinkendes Herz immer anfeuern zu wollen. Hätte sie die Möglichkeit, würde sie diese Uhr aus Augen und Ohren verbannen. Sie wundert sich manchmal, dass ihre Tochter das Geräusch nicht wahrnimmt, wenn sie sie nach unzählbaren Umläufen des einen und des anderen Zeigers besucht und einen Strauß Anthurien auf den Nachttisch stellt, gerade noch in ihr Blickfeld.
Ab und an überlegt sie, ob Muscheln sich wohl auch manchmal verloren fühlen. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie gerne ein Muschelleben führen. Es erscheint ihr so einfach, noch immer, obwohl auch ihr Leben nun nicht mehr kompliziert ist. Alte Sandklaffmuscheln, hat ihr Enkel damals aus seinem Aufsatz vorgelesen, können sich nicht mehr eingraben, wenn sie von dem steten Wechsel der Gezeiten freigespült werden, und vermutlich werden sie dann sterben, genau erinnert sie sich nicht mehr. Aber dies ist wohl das Prinzip des Meeres, denkt sie, Ebbe und Flut wechseln ebenso wie Geburt und Tod, nur manchmal dauert es eben etwas länger.


Zuerst veröffentlicht in „Der Herold Nr. 42“, Crago Verlag, 2004.

Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Andrea Tillmanns.

2 Gedanken zu „Andrea Tillmanns – Zwischen Ebbe und Flut

  1. Eleonore Hillebrand

    Ein grandioser, so liebevoller, bedenkender und beschreibender Text. Sei ein Mensch! (Zitat)
    Er betrifft vielleicht mein Sein und Leiden, wenn es soweit ist.
    Ich bin 90.

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