Christiane Portele – Die letzte Schlacht um Schertva

Der Verteidigungsrat der Stadt hatte sich versammelt. Es war eine bescheidene Anzahl von Soldaten, die sich in mehr oder minder gutem Zustand eingefunden hatte. Der Major, ein betagter Kämpe, mit ungeschnittenen struppigen Haaren und einem wilden Bart, bekleidet mit einer mehrfach zusammengeflickten Hose in Tarnfarben und einem alten dunkelblauen Militärmantel, baute sich vor seiner kleinen Truppe auf und erhob seine müde Stimme: „Tapfere Kameraden! Ihr habt mutig und unter Einsatz eures Lebens stets die Stadt verteidigt! Ehre dem Vaterland!“

Ein Chor erschöpfter Stimmen antwortete ihm: „Ehre dem Vaterland!“

„Es ist uns gelungen, sie gegen alle Angriffe zu verteidigen! Die Lage, die sich uns jetzt bietet, ist jedoch prekär, um nicht zu sagen“, er zögerte kurz, bevor er energisch fortfuhr, „verzweifelt!“

Die versammelten Kämpfer hielten die Luft an, ihre Augen weiteten sich. Das war unerhört, das war noch nie geschehen! Noch nie, in der ganzen langen Zeit des Krieges, hatte ein Vorgesetzter ihnen je gesagt, die Lage sei verzweifelt. Der Beginn der Rede hatte sich angehört wie die unzähligen Ansprachen ihrer Anführer, Worte, die ihren Mut anstacheln und ihre Tapferkeit loben sollten, inzwischen längst zu leeren Floskeln verkommen, im Angesicht der Zerstörung durch den Krieg.

Im Hintergrund regte sich etwas, das Rascheln von Kleidung, ein kaum hörbares kollektives Ausatmen war zu vernehmen. Irritiert schaute der Major in die Richtung dieser Geräuschquelle. Er war es gewohnt, dass die alten Mütterchen an den Versammlungen des Verteidigungsrates teilnahmen, aber normalerweise hielten sie sich völlig zurück und mischten sich nicht ein.

Matrioschka, die Älteste unter ihnen, stand mühsam von dem Feldbett auf, auf dem sie mit einigen anderen alten Frauen gesessen hatte, und trat in den Kreis der Soldaten. „Nun ist es also soweit!“ Ihre Stimme war klar und deutlich. „Das war zu erwarten!“

Der Major seufzte und sah plötzlich sehr alt aus. „Ein Panzerkonvoi ist auf dem Weg hierher. Sie bewegen sich von Norden auf Schertva zu. Einer unserer Späher hat sie beobachtet. Noch sind sie nicht hier, aber es dauert nicht mehr lange! Wir haben keine Munition mehr, kein Benzin, keine Minen. Wir haben ihnen nichts mehr entgegenzusetzen außer unsere bloßen Hände!“

Er nickte einem 13-jährigen Jungen, schlank und noch im Wachstum begriffen, mit langen Gliedern, die noch etwas ungelenk wirkten. Dieser trat in den Kreis und ergriff nervös das Wort: „ Es sind vielleicht 20 Panzer. Ich denke bei Morgengrauen haben sie die Brücke vor der Stadt erreicht.“

Der Major räusperte sich und fuhr fort: „Wir müssen einen Weg finden, euch“, er nickte Matrioschka und ihren Freundinnen zu, „und die Frauen und Kinder aus der Stadt zu schaffen. Vlado hier hat eine Idee, aber wir müssen ihnen Zeit verschaffen. Ich weiß nur nicht wie. Wer eine Idee hat, möge sprechen!“

Die Soldaten rissen entsetzt die Augen auf. In all den vielen Versammlungen hatte es das noch nie gegeben. Nie waren sie um ihre Meinung gebeten worden. Sie hatten Befehle befolgt, nicht selbst gedacht. Sie wussten nicht, wie sie darauf reagieren sollten. Außerdem schien die Lage völlig aussichtslos. All die vielen abgewehrten Angriffe, mit zum Teil fatalen Folgen und großen Verlusten, um jetzt nicht einmal die wenigen noch ausharrenden Kinder und Frauen retten zu können. Ihre Gehirne waren nicht imstande, sich eine Lösung zu überlegen. Die Verzweiflung, die sich unter ihnen ausbreitete, war mit den Händen zu greifen.

Der junge Späher trat noch einmal nach vorne, um das Wort an die demoralisierte Truppe zu richten: „Ich kann die Frauen und Kinder auf einem meiner Späherpfade aus der Stadt in die Hügel bringen und sie dort verstecken. Aber der Weg führt zunächst über den Grat des Hügels, das ist im Dunkeln zu gefährlich und bei Licht hat der Feind freien Blick auf sie. Es ist nicht weit bis zu einem kleinen Wäldchen, ab da sind wir dann geschützt.“ Nun klang seine bisher feste Stimme beinahe flehentlich. „Ihr müsst euch eine Ablenkung überlegen!“

Der Major schlug vor, die Nacht hindurch mit bloßen Händen Barrikaden aus Schutt zu errichten, doch sie wussten nicht, ob das den Fliehenden genügend Zeit verschaffen würde im Angesicht einer vorrückenden Panzerdivision der Feinde. Es gab kleine Kinder, die alten Mütterchen waren zwar tüchtig, aber nicht mehr in der Lage schnell zu gehen.

Matrioschka trat nun wieder in den Kreis, ihre Mütterchen bauten sich hinter ihr auf, bildeten einen Halbkreis, der ihr den Rücken stärkte. „Wir werden die Ablenkung übernehmen. Ihr“, sie blickte jeden einzelnen Soldaten dieser abgerissenen, erschöpften Überreste einer Einheit an, die so tapfer gekämpft hatte, um ihre Heimatstadt zu verteidigen, „werdet noch gebraucht. Wenn eure Frauen und Kinder irgendwann das Land wieder aufbauen sollen, brauchen sie euch!“

Es regte sich Widerstand. Die eben noch am Boden zerstörten Helden fühlten sich in ihrer Ehre getroffen.

„Das können wir nicht zulassen! Ihr bedürft der Sicherheit!“, rief einer.

„Ihr müsst mit den anderen fliehen. Wer hat denn so was schon gehört, Soldaten die fliehen und Großmütterchen, die die Verteidigung der Stadt übernehmen“, brummelte ein anderer.

„Wer hat euer Überleben organisiert? Wer hat euer Essen gekocht, eure Kleidung geflickt? Wer hat nachts an eurem Lager gesessen und euch gesungen, wenn euch Alpträume plagten?“, fragte Matrioschka unerbittlich und resolut. „Erzählt mir nichts davon, dass wir nicht auch die Verteidigung der Stadt übernehmen können, zumindest so lange, bis ihr mit den wirklich Schutzbedürftigen in sicherer Entfernung seid!“

Matrioschka hatte mit ihrem Kreis der alten Mütterchen die Organisation der Essensbeschaffung übernommen. Systematisch hatten sie alle Kinder und jungen Frauen dazu angehalten Straßenzug um Straßenzug nach Lebensmitteln abzusuchen. Sie hatten eine Ärztin und eine Krankenschwester, die sich dazu entschlossen hatten, in der Stadt zu verharren, dazu eingeteilt, einigen älteren Jugendlichen ihr Wissen beizubringen und ein kleines Lazarett eingerichtet. Obwohl sie kaum Verbandsmaterial oder Medikamente hatten, taten sie, was sie konnten. Sie hatten auch eine zentrale Küche eingerichtet und bereiteten aus den mageren Vorräten eine warme Suppe am Tag für alle sich noch in der Stadt aufhaltenden Menschen zu.

Der Major musste zugeben, dass das, was Matrioschka gesagt hatte, einer gewissen Logik nicht entbehrte. Er hob seine Hand und die sich entwickelnde Diskussion fand ein abruptes Ende.

„Matrioschka, sprichst du wirklich für alle? Habt ihr euch überlegt, was das für euch bedeuten könnte?“ Er wollte, er konnte nicht deutlicher werden. Er brachte es nicht über sich. Zu sehr waren ihm die alten Mütterchen ans Herz gewachsen. Sie waren die guten Geister der Stadt geworden. Wie oft hatten sie Schwerverletzte auf ihrer letzten Reise begleitet. Ihnen den Abschied durch ihr Dasein erleichtert. Er hatte höchsten Respekt vor ihnen, auch wenn er das vor versammelter Mannschaft nie zugeben würde.

Matrioschka schaute sich unter ihren Gefolgsfrauen um und gemeinsam nickten sie.

„Wir könnten unsere Waffen mitnehmen und den Frauen und Kindern Geleitschutz geben. Auch wenn wir keine Munition haben. Es hätte zumindest abschreckende Wirkung.“ Er wusste, das war Stuss, aber er musste Matrioschkas Vorschlag seinen Untergebenen schmackhaft machen. Sie sollten eine Chance auf ein Leben haben. Es waren so viele blutjunge Burschen unter ihnen, nebst einigen Männern in der Blüte ihrer Jahre. Sie hatten bis jetzt überlebt. Es wäre Wahnsinn, sie in den sicheren Tod zu schicken.

Nun nickte der Major schweren Herzens. Damit war die Sache entschieden.

 

Bei Anbruch des nächsten Tages, im Morgengrauen bot sich den anrückenden Panzern der Feinde ein unerwartetes Bild. Auf der Brücke, ein Stück vor der Stadt, stand eine einzelne alte Frau. Sie hatte die Arme weit ausgebreitet und blickte ihnen trotzig entgegen. Hinter ihr, in drei gestaffelten Halbkreisen hatten sich weitere alte Frauen aufgestellt, auch sie mit weit ausgebreiteten Armen.

Der feindliche Panzerfahrer an vorderster Front wurde unsicher, damit hatte er nicht gerechnet. Er zögerte, drosselte das Tempo etwas. War das ein Hinterhalt? Der befehlshabende feindliche Offizier, in sicherer Entfernung in einem Jeep am Ende der Panzerkolonne, brüllte in das Mikrofon, dass dem jungen Fahrer ganz vorne die Ohren klingelten: „Gas geben, Soldat, nicht bremsen, überrollt sie! Der Befehl lautet, die Stadt einnehmen, koste es, was es wolle!“

Entschlossen wollte der feindliche Panzerfahrer den Fuß auf das Gaspedal drücken, Befehle musste man ausführen, das war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Dennoch ließ ihn irgendetwas zögern. „Weiterfahren, Soldat! Sofort! Befolgt meine Befehle, Soldaten!“

Wieder befahl der Feind im vordersten Panzer seinem Fuß, aufs Gaspedal zu drücken. Doch sein Fuß verweigerte ihm den Dienst und presste anstatt dessen im letzten Moment das Bremspedal durch. Er kam knapp vor der alten Matrioschka, die nicht mit der Wimper gezuckt hatte, zum Stehen.

Der zweite Panzer hinter ihm, hatte zwar auf sein Zögern reagiert und sein Tempo etwas gedrosselt, doch er sah ja nicht, was sein Kamerad sah. Auf den zweiten Befehl des Kommandeurs hin, hatte er begonnen Gas zu geben, als er merkte, dass sein Vordermann bremste. Trotz seiner schnellen Reaktion konnte er nicht verhindern, auf den Panzer vor ihm aufzufahren. Er schob ihn ein Stück nach vorne.

Igor, der Fahrer im ersten Panzer registrierte nur, dass die alte Frau vor seinem Panzer verschwand. Er schrie seinen Partner an, die Ausstiegsluke zu öffnen, sprang hinaus, rannte um den Panzer herum zur Vorderseite und blieb entsetzt stehen. Kurzzeitig gelähmt durch das, was er dort sah. Die alte Matrioschka lag halb unter seinem Panzer eingequetscht, die Arme immer noch ausgebreitet, ein trauriges Lächeln auf ihrem Gesicht. Tränen rollten über ihre faltigen Wangen, sie bewegte die Lippen, doch es kam kein Laut heraus. Igor kniete sich hinter sie, bettete ihren alten Körper an seinen jungen, umschlang sie mit seinen starken Armen und flüsterte ihr zu: „Du bist nicht allein, Mütterchen, ich bin bei dir.“ Ganz kurz schob sich das vertraute Gesicht seiner verstorbenen Großmutter vor Matrioschkas erstarrende Züge und er meinte den leicht säuerlichen, leicht süßen Geruch, den er mit der Erinnerung an seine Großmutter verband, zu riechen. Dann war er wieder bei sich und wiegte sachte die Sterbende in seinen Armen und Tränen liefen auch ihm übers Gesicht.

Die alten Mütterchen versammelten sich um Matrioschka und stimmten einen Klagegesang an. Die Panzerbesatzungen waren aus ihren Panzern gekommen und nahmen im Angesicht der alten Frau, die zur Verteidigung ihrer Stadt ihr Leben gelassen hatte, ihre Mützen vom Kopf und knieten sich neben ihre Panzer. Der Kommandeur, wutentbrannt, dass man seine Befehle nicht befolgte, kam nach vorne gerannt, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Er wurde von einigen Panzerfahrern eingekreist und damit außer Gefecht gesetzt.

Und so endete durch das Opfer des alten Mütterchens Matrioschka die letzte Schlacht um die Stadt Schertva, bevor sie begonnen hatte.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Christiane Portele.

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