Kirsten Lehner-German – Phantasie

Als sie sich traut, ihre Augen endlich zu öffnen, glaubt sie, wieder zu träumen:
Direkt nach dem Tunnelausgang, im hell glitzernden Morgenlicht, von leichtem Nebel
untermalt, steht eine riesige Amphore. Trotz ihrer starken Neigung fällt sie nicht zu
Boden – und aus ihrer meterweiten Öffnung sprudeln alle Farben, die Djarah jemals
gesehen hat. Es ist ein Fluss üppiger Farben, ein selbständig bewegtes Formgefüge.
Die reife Frau nähert sich vorsichtig und schaut genauer hin. Alles wirkt lebendig,
eigene Formen bilden sich stetig neu und vor ihr eröffnet sich eine ungeahnte Welt.

Das hätte sie sich nicht mal im kühnsten Traum vorstellen können – trotz ihrer
immensen Phantasie! Unfassbar, solche Vielfalt, Aktivität und dieses stete und
lautlose Gebären!

Mit Glücksgefühlen folgt Djarah dem Farbenfluss und wird Zeugin der Entstehung
eines Paradieses. Da wachsen Riesenbäume innerhalb von Sekunden in den blau
getränkten Himmel – dort öffnen sich wundersame Blüten, an welchen sich schillernde
Kolibris in allen Farbschattierungen nähren. An beiden Ufern entlang ergiesst sich eine
farbenfrohe Welt. Mit jedem Atemzug erhascht Djarah unzählige Tiere und einige noch
nie gesehene Wunder, die empor drängen, ins Licht dieser pittoresken Landschaft.

Etwas müde sucht sich die Frau eine Möglichkeit, um auszuruhen. Das Blattgrüngemisch lädt dazu ein und den Blick in die Lüfte tragen zu lassen. Es duftet nach Moosen und Blüten, nach Frische und Unberührtheit – so, wie sich Djarah ihre
ZauberInsel immer vorgestellt hatte. Nein, viel reicher und echter!

Nach einem kleinen Nickerchen öffnet sie wieder zaghaft ihre Augen – sie hat Angst,
dass alles ein Traum gewesen sei. Wildfreudig klopft ihr Herz, als sie sich in diesem
Farbenjungle wieder findet!
Durstig und hungrig sieht sie sich um. Die Bäume und Sträucher hinter ihr stehen alle
in Blüte und Früchten. Sie entdeckt lockend rotorange Mangos, gelbleuchtende
Sternfrüchte, reife übergrosse Passionsfrüchte, und auch ganz fremde Sorten. Schnell
greift sie zu ihrem Dolch, den sie in einer Scheide am Rock trägt und schneidet sich
eine Frucht vom Baum. Die Schale ist schnell weg und sie beisst hinein…
…hmm…etwas im Geschmack erinnert sie an Farbe…-Ach! Jetzt weiss sie warum:
Ihr Pinsel steckt im Mund!


Texte von Kirsten Lehner-German findet ihr bei KeinVerlag.de: souldeep. Bilder, Kunst und ihre Kreativität findet man auf ihrer Homepage.

Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Kirsten Lehner-German.

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