Lesefrust – Wann lege ich Bücher weg bzw. lese sie nie zu Ende?
von I. J. Melodia
Grundsätzlich möchte ich jedes Buch zu Ende lesen. So handhabe ich es auch mit anderen Medien wie Filme oder Musikalben. Zum einen weiß man nie, ob nicht doch noch die große Überraschung, Wendung oder Passage kommt, die einen fesselt. Zum anderen gehört es in gewisser Weise dazu, kreativen Geistern eine Chance zu geben, und ist, zumindest für mich, eine Form der Höflichkeit oder des Respekts gegenüber dem/der Kunstschaffenden. Es wird ein Gedanke, eine Idee dahinter gewesen sein.
Und ja, es ist manchmal eine Quälerei und ja, es gab selbstverständlich auch bei mir schon Ausnahmen.
Ich werde bewusst darauf verzichten Namen oder Titel als Beispiele zu nennen. Auch hier geht es um die Achtung vor der Kunst. Und ein kleines Bisschen um die Angst vor etlichen Hasstiraden.
Die (Haupt)gründe, weshalb man ein Buch weglegt, dürften 5 sein:
- Thema/Genre
- Handlungsstrang
- Schreibstil
- Charaktere
- Subjektives Empfinden
Ich formuliere es vorsichtig: Ein Roman über das Stricken wird mich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dazu animieren, es überhaupt in die Hand zu nehmen. Womit ich aber keinesfalls sagen möchte, dass es unmöglich wäre zu diesem Thema nicht etwas Spannendes zu schreiben! Wenn mir jemand ein solches Buch empfehlen kann, gerne. Was ich sagen möchte ist, dass das Thema für gewöhnlich die Wahl eingrenzt, aber ich bin durchaus offen für alles.
Da ist mir in diesem Zusammenhang die Handlung wesentlich wichtiger. Wie gesagt, würde ich ein Buch über das Stricken lesen, wenn die Geschichte dahinter überzeugend ist, Spannung aufbaut und neugierig macht. Kurzum: Wenn es jemand schafft, aus dem Thema etwas Neues, Originelles zu kreieren, hat er es verdient, dass ich es lese.
Beim Schreibstil bin ich flexibel und tolerant. Seien es seitenlange Schachtelsätze oder ein Fragmentstil mit Sätzen, die aus 3 Wörtern bestehend. Der Kontext spielt hier eine Rolle. In einen Gesellschaftsroman gehören ebenso wenig morseähnlich ausgespuckte Kurzdialoge wie ausschweifende Darstellungen eines Wohnzimmers in eine Coming of Age-Geschichte. Aber auch hier: Wer eine solche, gut geschriebene Anomalie kennt, bitte melden!
Ein Charakter muss sympathisch sein. Punkt. Ohne das Mitfiebern mit dem Protagonisten bringt einem auch die beste Handlung nichts. Dabei ist es meiner Meinung nach gleichgültig, ob es sich um einen „guten“ oder „bösen“ Charakter handelt. Man muss seine Motive, Ziele und Vorgehensweisen nachvollziehen. Im Idealfall gibt es eine Entwicklung. Falls diese Figur nach 100 Seiten stirbt/verschwindet etc., sollte es genug „Nebencharaktere“ geben, um die Lücke auszufüllen.
Der wichtigste Aspekt, weshalb man ein Buch nicht zu Ende liest, ist das persönliche Empfinden. Selbst wenn alles passt: Das Lieblingsgenre mit entsprechendem Thema; eine Handlung, die logisch ist und Spannung verspricht; ein Schreibstil, der sich flüssig liest und Charaktere, die perfekt in dies Welt passen. Aber nur ein paar merkwürdige Sätze, eine historische Ungenauigkeit, vielleicht ein Ort oder irgendeine andere Kleinigkeit in der Handlung und der Spaß ist womöglich vorbei.
Für mich sind es z.B. Recherchefehler bzw. –faulheit. Oder was ich gerne als Pseudowahrheit bezeichne. Quasi wenn das Buch bewusst als „realistisch“ und/oder „historisch“ daherkommt, ich aber beim Lesen merke, dass Zusammenhänge, Orte, Namen oder Daten usw. nicht korrekt sind. Oder wenn es offensichtlich ist, dass Sätze, Passagen etc. aus andere Büchern (oder Filmen, Liedtexten) geklaut sind. Und ich meine geklaut und nicht entlehnt, persifliert oder als Hommage integriert.
Vermutlich fallen mir noch andere Punkte ein. Allerdings würde ich mich damit vermutlich unglaubwürdig machen, angesichts meiner Aussage zu Beginn. Daher lasse ich es und rate allen offen für Neues zu sein in der großen weiten Welt der Literatur. Es gibt immer wieder Kleinode, vergessene Klassiker oder verkannte Neulinge zu entdecken. Und nur, weil ein Buch nicht auf einer Bestsellerliste steht, heißt das nicht, dass es nichts taugt. Da habe ich eher die gegenteilige Erfahrung gemacht.
Aber das ist ein anderes Thema.
Homepage von I.J. Melodia
Lieber Melodia,
vielen Dank für deinen interessanten Beitrag! Ich finde es immer wieder spannend, zu sehen, wie sehr man sowohl gleicher als auch unterschiedlicher Meinung sein kann. 🙂 Aber ich fange mal von vorne an:
Zunächst finde ich es absolut löblich, dass du versuchst, jedem Buch eine Chance bis zum (manchmal bitteren) Ende zu geben. Ich wünschte, diese Einstellung wäre mir auch geblieben, aber leider (oder glücklicherweise?) haben sich meine Lesegewohnheiten im Laufe der Zeit gewandelt. Ich gebe einem Buch meistens etwa 100 Seiten, bevor ich entscheide, ob es sich lohnt, es weiterzulesen (es sei denn, ich stolpere schon auf den ersten paar Seiten über groben stilistischen oder inhaltlichen Unfug!).
Warum genau 100 Seiten? Na ja, ich schreibe gelegentlich Gutachten für Verlage, bei denen ich einschätzen muss, ob sich die Übersetzung eines Romans für den Verlag eignet. Während eines mehrmonatigen Praktikums konnte ich dabei eine gewisse Routine entwickeln, da ich in dieser Zeit nicht nur Bücher begutachten (also komplett lesen plus eine schriftliche Beurteilung verfassen), sondern auch schnelle Einschätzungen abgeben musste. Für diese Einschätzung empfahl man mir, die ersten 50 Seiten zu lesen und anhand derer eine Entscheidung zu treffen.
Ziemlich früh habe ich aber erkannt, dass ich nach 50 Seiten noch nicht viel über ein Buch sagen kann. Manche Bücher kommen erst spät in Fahrt, entwickeln später aber einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Und bei anderen wiederum merkt man schon nach ein paar Seiten “Ups, so geht das aber nicht.” 50 Seiten habe ich eigentlich nie gebraucht, um ein Buch einschätzen zu können.
Meine magische Grenze liegt eher bei knapp 100 Seiten. Wenn mich ein Buch auch nach 100 Seiten nicht gepackt hat, dann wird das mit uns beiden nichts, so leid es mir tut. (Also – mit dem Buch und mir!) 100 Seiten geben mir das Gefühl, wenigstens genug von einem Buch gelesen zu haben, um meine Abneigung, mein Weglegen begründen zu können.
Deinen genannten fünf Aspekten, nach denen du ein Buch beurteilst, möchte ich gerne noch einen weiteren hinzufügen: Spannung. Damit meine ich nicht diese leichenzerfledderte, mörderische, cliffhangerlastige Splatterspannung, sondern den bereits erwähnten Sog, einen roten Faden oder auch nur ein rotes Licht in der Ferne, das mir das Gefühl gibt, unbedingt weiterlesen zu müssen. Dieser Sog ist für mich das Hauptkriterium, das ein Buch besitzen muss, um es nicht aus der Hand zu legen. (Wütend in die Ecke gepfeffert werden von mir nur Bücher, die durch unfassbar schlechten Stil, schlechte Recherche oder mangelnde Logik bestechen.)
Genau wie dir sind auch mir die Charaktere sehr wichtig, allerdings würde ich den Charakter, den es meiner Meinung nach braucht, nicht als “sympathisch”, sondern als “interessant” bezeichnen. Einer meiner Romanfavoriten der letzten Jahre war Juli Zehs “Unterleuten” (das vor Kurzem ausgesprochen gut und textnah verfilmt wurde), und in diesem Buch gab es keinen einzigen mir sympathischen Charakter, aber ich wollte unbedingt wissen, wie die Handlung für jeden einzelnen ausgeht – weil sie zwar nicht sympathisch aber interessant waren.
Ich bin gespannt, welche Kriterien hier noch ins Gespräch kommen, und wünsche allen in den nächsten Wochen ein frohes Lesen! (Jetzt haben wir ja alle Zeit genug …)
Skala
Hallo Skala,
vielen Dank für den Kommentar!
Deine Lesegewohnheit erscheint mir durchaus sinnvoll. Mit Sicherheit ist sie zum Großteil dem Job geschuldet. Wenn man regelmäßig Bücher lesen muss – und garantiert sind da einige Exemplare, Themen etc. dabei, die man privat eher nicht anrühren würde – bleibt einem quasi nichts Anderes übrig. Nennen wir es Selbstschutz.
Tatsächlich fände ich 50 Seiten ebenfalls zu wenig. Zumal man es meiner Meinung nach auch in Relation sehen sollte. Ein 300-Seiten Buch hat zu diesem Zeitpunkt eventuell bereits relevante Handlungen vorzuweisen. Bei einem Werk mit 500 Seiten mag das noch nicht der Fall sein. Deine Grenze erscheint mir eine logische Schlussfolgerung aus Erfahrungswerten zu sein. Und ob man 50 oder 100 Seiten liest, macht für einen Bücherwurm keinen Unterschied. Wenn es inhaltlich nicht eine absolute Quälerei ist.
Zu den Aspekten: Tatsächlich ist Spannung, bzw. deine Definition davon (die ich auf exakt dieselbe Art und Weise formulieren würde) in meinem Punkt „Handlungsstrang“ enthalten. Aber ich gebe dir Recht, wenn du jetzt argumentierst, dass das nicht rauskam im Text.
Wo ich dir aber vollkommen zustimme, ist die Wortwahl zwischen „sympathisch“ und „interessant“. Selbstverständlich ist das die korrekte Bezeichnung. Und im Grunde ist es hohe Kunst ein Buch zu schreiben, in dem alle Charaktere absolut widerwärtig sind, aber man dennoch dranbleibt, weil sie beim Lesen spürbar sind.
Liebe Grüße,
I.J. Melodia