Bernhard Zilling – Was draußen geschah

Blieb keine Zeit, mir auszudenken, wie es wäre, wenn sie nur in eine Richtung liefen. Nein, sie rannten einzeln hierhin, dorthin, versteckten sich unter den vielen unbesetzten Bierzelttischen, hinter den Linden, rissen den Platanen Puzzlestücke vom Stamm, liefen dann für mein Gefühl zu nahe am Flussufer entlang, als sie die Platanenstücke in die Fluten warfen, der hinter den abgrenzenden Büschen des Biergartens vorüber schoss, und zusahen, wie die Teile im weißen Strudelschaum untergingen, kurz wieder auftauchten, um dann ganz zu verschwinden, im unsichtbaren Dunkel der unruhigen Wassermassen.

Eine der Mütter hatte ihre Handtasche vor mir auf den Biergartentisch gelegt. Zur verantwortungsvollen Aufsicht, hatte sie gesagt. Und hinzugefügt, sie wisse, sie könne mir vertrauen, weil sie sicher sei, dass ich – anders als andere Männer – in ihrer Abwesenheit nicht aus Neugier einen Blick in das geheime Spiegelbild ihrer Existenz werfen würde.

Plötzlich war hinter mir Kindergeschrei, und sofort zählte ich die Kinder der beiden Gruppen und sah sofort, dass einer, der Kleinste, sich meiner Addition entzog. Die Jungs und Mädchen riefen nach ihm, gingen zwischen den Tischreihen hindurch, hoben die rot karierten, weit herabhängenden Tischtücher, suchten und suchten und fanden ihn nicht. Ich klagte mich an, durch die Beaufsichtigung der Tasche und die sich daraus ergebenden Gedanken, Wünsche und die Beschäftigung mit dem Tabu des Einblicks in die mir anvertraute Innenwelt einer unbekannten Frau die Kinder aus den Augen verloren zu haben. Ich stand schnell auf, griff nach der Handtasche, die sich dadurch öffnete und mir ihren gesamten Inhalt, ein wildes Durcheinander aus Lippenstiften, Schlüsseln, Zigaretten, Kondomen, Tampons, Kugelschreibern, Papiertaschentüchern, Geld in Scheinen und Münzen, zur flüchtigen Betrachtung bot, bevor ich die beiden Bügel wieder zusammendrückte und sein Innenleben meinem Blick verschloss. Rannte nun los und genauso kopflos umher wie vorher die Kinder, in der Hoffnung, bevor eine der Mütter zurückkommen würde, das verschwundene Kind gefunden zu haben. Wir riefen, wir rannten, wir sagten einander, wo wir gewesen waren, und dass wir ihn dort jedoch nicht gefunden hatten: den Benjamin.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Bernhard Zilling.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert