Dana Shirley Schällert – Wie man schreit

Über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen

Als ich ein Kind war, da habe ich immer sehr laut geschrien. In unserem weißgetünchten Haus mit den vollautomatischen Rollläden und der Einfahrt aus Schotter, Kies und Pflastersteinen. Blecheimerstimme, hat meine Mutter immer gesagt. Meine Mutter mit der Blumenallergie. Meine Mutter, die so oft nicht da war. Und wenn sie da war, dann war sie doch nicht da. Deswegen war ich oft sehr traurig. Wer so rumschreit mit so einer Blecheimerstimme, der kriegt eh nicht, was er will. Und den will übrigens auch keiner. Das hält ja niemand aus. Wenn du dein Leben lang mit so einer Blecheimerstimme schreist, dann werden sie alle vor dir wegrennen. Dann wirst du immer alleine sein. Da habe ich ganz laut geschrien. Mit meiner Blecheimerstimme, bis mir der Hals ganz trocken war. Und meine Mutter ist weggegangen.

Ich bin dann älter geworden. In der Pubertät habe ich auch noch manchmal geschrien. In meinem Zimmer. Gegen die grauen Wände und altrosa Vorhänge. Vielleicht eher nicht wie ein Blecheimer. Vielleicht höher. Vielleicht hysterischer. Vielleicht eher wie der Wasserkocher in der Küche der Wohngruppe. Habe geschrien, als wenn es ganz hoch pfeift in der Luft. Als wenn die Wand zittern, der Vorhang sich bauschen, der Kaktus auf dem Sims herabfallen, das Glas bersten müsse. Und es stimmte schon. Wenn ich mal einen Freund gefunden hatte und der mich mochte und der eigentlich gerne mit mir zusammen war und ich dann so geschrieben habe, weil irgendwas nicht so war, wie ich mir das vorgestellt hatte, meist weil ich Angst hatte, dass er geht, dann ist er gegangen. Dann war ich allein. Und mit Freundinnen war das auch oft so. Eigentlich habe ich immer geschrien, wenn ich hätte weinen wollen. Aber ich hatte gelernt, die Tränen runterzuschlucken.

Irgendwann wurde ich erwachsen. Und das hörte auch nicht auf. Habe dann nicht mehr geschrien. Habe gelernt, auch das Schreien runterzuschlucken. Habe ein Kind, das aus einem zufällig gefallenen Samen gewachsen ist. Das schreit manchmal. Ich gehe nicht weg. Als es noch ganz klein war, schrie es sogar sehr viel. Ich schwieg still, pfiff auf dem letzten Loch, schaute über die in der Heizungsluft längst welk gewordenen Alpenveilchen hinweg aus dem Fenster der Dachgeschosswohnung in die Nacht, lief schließlich stumm und mit blindem Kopf hinter dem Kinderwagen her durch die dunkeltauben Straßen mit den vereinzelt rauschenden Bäumen, trug im Blecheimer den Müll heraus, während es in Strömen goss, und fragte mich manchmal, warum ich aufgehört hatte zu schreien. Ob ich mich längst selbst verschluckte. Ob es nicht besser ist, sich selbst schreien zu hören, im eigenen Schall zu stehen, als in jenem der anderen. Habe das Kind mit der Blecheimerstimme angeschaut, als sei es nicht mein Kind. Ich könnte gehen. Den Mund aufmachen. Schreien, solange ein Ton kommt, bis Tränen kommen, bis ich ganz heiser bin, bis alles herausgeschrien ist. Dann wäre ich allein. Und würde wieder schweigen. Und wenn alle gehen würden, alle Menschen in der Welt, weil sie das Schreien der anderen nicht aushielten, nach ihrem Schreien wieder schweigen würden, dann würde es ganz still sein. Und wir würden einander nicht mehr hören. Einander nicht mehr sehen. Wir wären alle allein.

Heute bin ich erwachsen. Und manchmal will ich schreien. Es klingt eigentlich gar nicht wie ein Blecheimer. Nicht wie ein Wasserkocher. Ich denke an Vogelstimmen, ich schreie sehr unterschiedlich. Eine Eule, eine Krähe, eine Falkin. Ein Wind, ein Sturm, ein Regenguss. Manchmal schreie ich im Ernst, manchmal schreie ich im Spiel. So wie mein Kind. Manchmal klingt es bei uns wie im Frühlingsgarten, in unserem kleinen Schrebergarten, wenn die Vögel ihre Brutreviere markieren, wenn der Sturm den Regen ablöst und wir rasch ins kleine Häuschen flüchten, eng, oder wenn die Amsel vor der Katze warnt und der Nachbar den Rasenmäher anschmeißt. Manchmal liegt mein Kind auf meiner Brust, drinnen oder draußen, ganz dicht unter meinem Hals, ganz dicht nach einem Wutanfall, und ich denke, dass sich ihr Kopf heben müsste, wenn ich schlucke, höre, wie ihr Atem noch pfeift von der Anstrengung, weil sie etwas Asthma hat, und wir schauen in den Himmel, wie die Vögel vorbeifliegen, auch wenns die Zimmerdecke mit der Plusterlampe ist. Wir sind dann still. Ich streiche über ihre vom Schweiß durchtränkten schütteren Haare. An kalten Tagen gibt es Heiße Liebe aus Himbeer und Vanille, wenn es sehr warm ist, dann Eistee, der hilft gegen trockne Kehlen. Und immer gießen wir unsere Blumen mit dem Eimer aus Blech, damit sie nicht vertrocknen.


Jede Menge Prosa und mehr von Dana Shirley Schällert findet ihr auf ihrer Homepage: dana-shirley-schaellert.de

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