Jochen Pogrzeba – Bar Jazz

Die schlechte Luft in der kleinen Jazzbar ignorierend, atmete Geraldine tief ein. Ihre Lungen füllten sich mit wochenaltem Rauch und abgestandener ausgeatmeter Luft. Sie blickte auf das halbgefüllte Cocktailglas, welches verloren vor ihr auf der Theke stand. Ein Beobachter hätte die Flüssigkeit für einen in einem Eichenfass gelagerten Grappa halten können, doch Geraldine wusste, dass es nur Wasser aus dem alten vergammelten Plastikbehälter unten im Keller war. Die bräunlich-graue Färbung störte sie nicht, solange es nicht blau war.

In der Mitte der kleinen Bar stand die Band, die lediglich aus einem Saxofonisten und einem großen dünnen Mann am Kontrabass bestand. Die beiden spielten die gleichen alten Jazz-Standards wie am gestrigen Abend und auch an den Abenden zuvor. Manchmal gelang es Ihnen kleine aber feine Improvisationen einzubauen, die die Melodien etwas differenzierter oder frischer erschienen ließen, so dass Geraldine fast vergessen konnte, dass sie diese Tonfolgen seit Monaten jeden Abend immer wieder gehört hatte.
Sie hatte heute noch nicht gesprochen, nicht mit den anderen drei Gästen, nicht mit dem Barkeeper, nicht einmal zu sich selber. Geraldine hatte wieder den alten Barstuhl in Beschlag genommen auf dem sie jeden Abend saß. Jener Barstuhl, bei dem der braun-rote Bezug bereits abgewetzt war und der zerpflückte Schaumstoff in leichten Flocken auf den Boden der Bar rieselte.
Sie warf einen Blick in die kleine Jazzbar und ließ die Farben auf sich wirken. Nichts Blaues war zu sehen, nicht an den Wänden, nicht an der Theke, nicht an der Kleidung der anderen Gäste. Es beruhigte sie. Das dunkel-orange Interieur, das weinrote Mobiliar, unterbrochen nur durch wenige grüne oder gelbe Farbpunkte. Alles nur kein Blau.
Geraldine dachte darüber nach, zu dem Pärchen an dem kleinen Tisch zu gehen, das dort, wie jeden Abend, schweigend saß. Eine sprachlose Mischung aus Desinteresse und Ablehnung hielt sie davon ab. Sie hätte sich mit den beiden unterhalten können, über all das was draußen in der Welt geschehen ist, seit sie vor gut zehn Monaten einen Rückzugsort in dieser Bar gefunden hatten. Sie hätten über ihr Sanktuarium sprechen können, das sie sich hier aufgebaut hatten, eine neue Heimat inmitten all des Irrsinns um sie herum. Doch sie taten es auch heute nicht.

Auch der alte Mann, der jeden Abend an der anderen Seite der Bar stand, hatte sich wieder in eine dicke Decke aus Schweigen gehüllt. Scheinbar hörte er der Band zu, die ihre immer melancholischer werdenden Melodien durch den Raum schweben ließ. Doch Geraldine wusste es besser, der einsame Mann starrte wie jeden Abend auf das Loch oben an der Decke, in dem die Rotoren der abgeschalteten Belüftungsanlage hingen. Man hatte die Öffnung mit einer alten Decke zugestopft und mit Klebeband verschlossen. Doch das Klebeband war mittlerweile stumpf und brüchig geworden. Seit die Türen und Fenster zugenagelt wurden, war das Lüftungsloch die einzige Verbindung nach draußen, der einzige Zugang durch den das Grauen zu Ihnen hätte durchdringen können. Und der Mann fixierte die Öffnung mit seinen Blicken, wie ein Wächter der darauf lauerte, dass der unsichtbare Eindringling nicht den Weg in die Bar fand, nicht die Harmonie aus Gelb und Rot mit einem blauen Faustschlag zerstörte.

Geraldine nippte an ihrem Glas. Das Wasser schmeckte fad und abgestanden, doch wenigstens hatten sie noch etwas zu trinken. Ebenso wie die alten Konservendosen im Keller, mit denen sie noch einige Zeit würden überleben können. Geraldine dachte darüber nach zu tanzen, so wie sie es ab und an tat. Alleine, begleitend von den verständnislosen Blicken der anderen Eingeschlossenen, sich sanft hin und herwiegend zur Musik der Jazzband, all den blauen Schrecken vergessend, der draußen auf sie lauerte.
Der Barkeeper spülte einige Gläser ab, in dem gleichen Wasser, in dem er Abend für Abend seine Gläser reinigte. Geschäftigkeit und Routine vortäuschend, als ob er der immer gleichen Tristesse durch pure Ignoranz und Gleichgültigkeit ein Schnäppchen schlagen könnte.

Geraldine kam ihre Familie in den Sinn. Wie durch einen Nebel an Erinnerungen sah sie die blauen Gesichter ihrer Eltern vor dem geistigen Auge. Ob sie noch lebten? Sie bezweifelte es. Seit vor einigen Monaten das TV-Programm gestorben war und das Gerät nur noch grisslige Punkte auf den Bildschirm malte, war ihr klar, dass außerhalb dieser Jazzbar kein Leben mehr existierte. Vielleicht gab es noch eine andere Bar auf der Erde, in dem ebenfalls sieben Eingeschlossene auf ihr Ende warteten, doch würde Geraldine das wohl nie erfahren.

Den ‚blauen Tod‘ hatten sie die Krankheit genannt, die sich seit letztem Jahr in Windeseile über den Planeten ausgebreitet hatte, benannt nach den blauen Lippen, welche sich bei allen Neuinfizierten zeigten. Übertragen wurde sie durch einen bloßen Windhauch, der das Virus von Land zu Land, dann von Stadt zu Stadt und schließlich von Mensch zu Mensch trug, eine Armee von Toten hinterlassend. Ein Virus, von dem niemand wusste, woher es gekommen war, welches aber dieses riesige Schlachtfeld als sicherer Sieger verlassen würde.
Geraldine starrte in ihr Glas. Solange es Ihnen gelang, die Luft von draußen fern zu halten konnten sie sich sicher fühlen. Eingesperrt in einer kleinen Blase mitten in einem wütenden Ozean aus Tod und Zerstörung. Sie nahm erneut einen tiefen Zug der abgestandenen Luft und für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl eine frische Brise einzuatmen. Der Barkeeper hatte sich nun zu ihr hinübergewandt und starrte sie plötzlich aus entsetzten Augen an. Geraldine warf einen Blick in den stumpfen Spiegel, der an der Wand neben der alten Cinzano-Werbung hing. Sie sah ihr eingefallenes Gesicht, ihre leeren Augen und die deutlich blau angelaufenen Lippen. Es war soweit, der blaue Tod hatte nun auch den Weg zu ihnen gefunden. Ein leichtes Seufzen entkam ihrem trockenen Mund. Sie wusste, dass dieses Seufzen für heute ihre einzige Gefühlsregung bleiben würde, durch den Raum getragen auf den leichten swingenden Tonfolgen einer kleinen Band in einer Jazzbar irgendwo am Ende der Welt.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Jochen Pogrzeba.

Ein Gedanke zu „Jochen Pogrzeba – Bar Jazz

  1. Arne H

    Mutet nach einem Exzerpt aus einer längeren Geschichte an. Zumindest wäre es einen Versuch wert!
    Der Duktus dystopisch beklemmend, und das kommt auch so rüber. Das Ende der Protagonistin ist zugleich das Ende von allem: dem letzten Zufluchtsort einer blauen, leicht dahingeseufzten Entität des Todes, der Swing der Jazzband als melancholisches Requiem zu einem sang- und klanglosen Abgang.
    Es lässt mich schaudern!

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert