Richter und Henker zugleich

Leselust/Lesefrust: Was habt ihr denn erwartet?

von Alina Becker

Er ist wieder da. Aus den unendlichen Bücherhallen in der Heiligen Stadt Köln auf direktem Wege weiß gewandet ins ebenso weiße Paradies, das furchtbar langweilig wäre, gäbe es da nicht die Möglichkeit „schlechte, missratene, ja vollkommene (sic!) miserable Bücher“[1] zu analysieren und zu verreißen. Was auf den ersten Blick wie ein Upgrade wirken mag, ist nichts weiter als der neueste, umstrittene Streich des SWR und des vor allem als Literaturkritiker bekannten Denis Scheck: Schecks Anti-Kanon.

Das Format ist kurz erklärt: Scheck, in optischer Anlehnung an Morgan Freemans Gott-Interpretation in Bruce Allmächtig, thront in einem weißen Studio vor vollen Bücherregalen mit nach hinten gedrehten Buchrücken und mokiert sich drei bis sechs Minuten lang in gewohnter Druckfrisch-Manier über ein literarisches Elaborat seiner Wahl. Zum Abschluss dann der Fingerzeig Gottes und ein Lichtblitz, der das geschmähte Werk nicht nur in Flammen aufgehen lässt, sondern gleich vaporisiert. Fahrenheit 451 plus. Die Auswahl der Werke: bestenfalls mäßig interessant.

Den Reigen eröffnete ein Klassiker der deutschsprachigen Unterhaltungsliteratur, möchte man so sagen, nichts Geringeres als Adolf Hitlers Jahrhundertepos Mein Kampf. „Eröffnete“, Imperfekt, denn das Video wurde bereits aus Pietät gegenüber den anderen verrissenen Autoren in die ewigen Jagdgründe geschickt. Die restlichen Videos widmen sich ohne inhaltlichen Zusammenhang Paolo Coelho (Der Alchemist), Sebastian Fitzek (Passagier 23), Christa Wolf (Kassandra), Johannes R. Becher (Danksagung), Stefan George (Das neue Reich) und Svende Merian (Der Tod des Märchenprinzen).

Über Sinn und Sinnlosigkeit eines solchen Anti-Kanons lässt sich lang und breit diskutieren. Jemand wie Denis Scheck, der vor einigen Jahren bereits einen umfangreichen und durchaus beachtenswerten und diversen Kanon aufgestellt hat, muss wohl zwangsläufig eine Liste mit persönlichen literarischen No-Gos führen. Vielleicht wäre sie besser im Privaten geblieben: Dass das Interesse der breiten Masse an literarischen Verrissen nicht allzu groß sein kann, zeigen schließlich die Aufrufzahlen der einzelnen Videos, die Stand 20. Juli bei 1.300 bis 3.300 Klicks lagen.[2] Die Wellen, die das Projekt im Feuilleton schlug, waren umso höher und erstaunlicher.

Zugegeben, Kritikpunkte gibt es einige. Einige berechtigte. Auf die inhaltliche Qualität von Schecks Analysen sind andere schon zu Genüge eingegangen, insbesondere in Bezug auf den vermeintlichen Frevel an Kassandra. Scheck habe den Subtext, die Verbindungen zum DDR-Regime nicht verstanden.[3] Hitler und Wolf nebeneinanderzustellen, sei „in dieser Gleichsetzung schon infam.“[4] Überhaupt, warum olle Kamellen ausgraben, die glücklicherweise schon vor Jahrzehnten in der Versenkung verschwunden sind?[5]

Und dann natürlich die Vernichtung der Bücher. Ein Akt, der an düstere Zeiten erinnert. Die grausame Tradition der Bücherverbrennung scheint so alt wie die Literatur selbst. Es gibt zahlreiche Beispiele aus dem alten Rom, aus den Zeitaltern der Inquisition und der Aufklärung und natürlich aus dem dunkelsten Teil unserer hiesigen Geschichte, der Bücherverbrennung unter den Nationalsozialisten. In jüngerer Zeit fielen etwa Rushdies Satanische Verse und J. K. Rowlings Harry-Potter-Bände den Zündeleien radikalisierter, zumeist religiöser Fanatiker zum Opfer. Und das alles sind nur die aufsehenerregendsten Beispiele einer jahrtausendealten Praxis.

Aber lässt sich Schecks sekundenschnelle, lichtschwertblaue Laserblitzverpuffung wirklich mit einer zelebrierten Bücherverbrennung vergleichen? Möglicherweise. Das Resultat, so könnte man argumentieren, ist schließlich dasselbe – ein literarisches Werk wird öffentlichkeitswirksam unschädlich gemacht. Ins Nirwana geschickt. Entsorgt.

Nur: Entsorgen lassen sich Bücher auf unterschiedlichste Weise. Wir können sie verbrennen. Wir können sie direkt verbieten, auf den Index setzen, ihre Publikation erschweren. Oder wir können sie schlicht in die Mülltonne werfen.

Klingelt da etwas? Bücher, die mit Schwung über eine Rollbahn in den Müll gepfeffert werden? Ist das nicht das Kernkonzept der Scheck’schen Spiegel-Bestseller-Verrisse aus dem Druckfrisch-Format? Für alle, die zur Ausstrahlungszeit für gewöhnlich schon schnarchen: Abwechselnd nimmt sich Denis Scheck in seinem mitternächtlichen ARD-Format die Spiegel-Bestseller-Listen Belletristik und Sachbuch vor. Frei nach dem Motto „die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“ stapelt er die Bücher, die Gnade vor seinen Augen finden, zu seiner Seite, während die verschmähten Werke dort landen, wo sie Scheck zufolge hingehören: im Müll. Mir drängt sich daher eine Frage auf, die ich all den Empörten stellen möchte: Was habt ihr denn erwartet?

Was habt ihr von dem Anti-Kanon eines Kritikers erwartet, der sich in dem einen Moment von ihm gefeierten Schriftstellern vor Pathos triefend anbiedert und im nächsten Moment die Arbeit anderer, weniger begünstigter Autoren von sich schleudert, als gehörte sie nicht nur in den Papier-, sondern gleich auf den Sondermüll?

So scharf und stimmig Schecks Analysen gelegentlich auch sein mögen, so hart und respektlos ist sein Umgang mit den von ihm kritisierten Werken, und zwar schon seit Langem. Nur jetzt, mit diesem neuen Format, hat der SWR den Bogen anscheinend überspannt. Aha.

Wo ist denn jedes Mal der Aufschrei, wenn die Bücher der Spiegel-Bestseller-Autoren von Scheck öffentlich entsorgt werden? Muss erst echter Rauch zu sehen sein, um eine Assoziation mit Bücherverbrennungen hervorzurufen? Oder ist Schecks mangelnder Respekt vor der Arbeit anderer Autoren erst von Bedeutung, seit mit Kassandra ein Klassiker deutschsprachiger Literatur angegriffen wurde und es nicht mehr nur die erfolgreichen Vertreter der vom Feuilleton gekonnt ignorierten Unterhaltungsliteratur trifft? Für die Kritik an Coelho oder Fitzek interessieren sich die Verteidiger der gehobenen Literatur nämlich überraschenderweise nicht die Bohne.

Was immer die Beweggründe der plötzlich wie die Schachtelteufel hervorspringenden Empörer auch sein mögen: Die Aufregung hat Früchte getragen. Die Verantwortlichen haben sich für mögliche Missverständnisse entschuldigt, Hitler wurde offline genommen und die Lichtblitzanimation soll für kommende Folgen überarbeitet werden.[6] Ansonsten bleibt alles beim Alten: Scheck schwadroniert weiter im öffentlich-rechtlichen Rundfunk herum und kloppt Bücher in die Tonne, während seine Kritiker sich voraussichtlich zufrieden wieder in ihr Nest kuscheln. Bis zum nächsten Klassikerverriss.

Der sicher nicht auf sich warten lässt, derweil wird nämlich an neuen Folgen des Anti-Kanons gearbeitet. Man darf also gespannt sein. Aber wem das auch ohne verpuffte Bücher zu hart ist, der könnte, wenn das nächste Mal Denis Scheck auf dem heimischen Bildschirm auftaucht, einfach den Rat eines beliebten, mittlerweile verstorbenen Kindersendungsmoderators beherzigen: „Und jetzt – abschalten!“


[1] SWR: Einleitungstext zu Schecks Anti-Kanon; https://tinyurl.com/32f35u8e

[2] van Endert, Sabine: „Wir wollten den ‚Literaturpapst“ ironisch auf die Spitze treiben“, Interview mit SWR-Literaturchef Frank Hertweck im Börsenblatt, 20.07.2021, https://tinyurl.com/uwmtfyms

[3] Krampitz, Karsten: „Der Subtext dieser Erzählung bleibt ihm verborgen“, Interview mit Simone Barrientos, nd Aktuell, 16.07.2021; https://tinyurl.com/5da8634r

[4] Fitzel, Thomas: „Die Entwürdigung der Literaturkritik“, Deutschlandfunk Kultur, 16.07.2021; https://tinyurl.com/anawc84d

[5] Jandl, Paul: „Früher gab es Literaturpäpste, heute gibt es das jüngste literarische Gericht – es heißt Denis Scheck und demontiert sich am Fernsehen gleich selbst“, Neue Zürcher Zeitung, 22.07.2021; https://tinyurl.com/wp6447eh

[6] van Endert, Sabine: ebd.


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