Die Last mit der Leselust: Tsundoku

von Alina Becker

Ich habe ein Problem, und dieses Problem teile ich vermutlich mit sehr, sehr vielen Menschen. Es ist gesellschaftlich derart akzeptiert, dass einige Kulturen dafür gar einen eigenen Ausdruck kennen. Die Japaner nennen dieses Problem „Tsundoku“. Damit gemeint ist das Phänomen, „[e]in Buch ungelesen [zu] lassen, nachdem man es gekauft hat, und es zu den anderen ungelesenen Büchern [zu] legen.“[1] Mangels eines adäquaten deutschen Begriffs nenne ich mich wider aller politischen Korrektheit meist schlicht einen Büchermessie.

Nun gibt es sicherlich schlimmere Formen des zwanghaften Hortens. Die Tierhortung, beispielsweise. Bücher braucht man nicht zu füttern, sie koten und haaren nicht, und einen unangenehmen Geruch sondern sie nur ab, wenn man sie zu lange in abgegriffenen, muffigen Kartons auf einem Dachboden vor sich hin gammeln lässt. Und im Gegensatz zu Hardcore-Preppern stehen Bücherhorter nicht irgendwann vor dem Problem des abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatums. Bücher altern und reifen mehr oder weniger gut, aber schimmlig werden sie nur im Feuchtigkeitsfall.

In meiner Kindheit und Jugend lernte ich, mit einer kleineren Anzahl von Büchern auszukommen, als ich lesen konnte. Auf dem Land, wo Bibliotheken Mangelware sind, in Zeiten vor eBay, E-Books und Onleihe-Konzepten, muss man nehmen, was man bekommt. Nachdem die eigenen Bücher sowie die alten Jugendbücher der Eltern ausgelesen sind und auch der Tausch mit Freunden selten Neues bringt, liest man einfach alles noch einmal. Und noch einmal. Und … so weiter. Viel lesen mit wenig Büchern – ein inhaltliches Problem, aber kein logistisches.

Das kam erst mit dem Studium. Eine literaturlastige Fächerwahl, und schon weiß man früher oder später nicht mehr, wohin mit all den Lektüren. Während umsichtige und praktisch veranlagte Kommilitonen irgendwann dazu übergingen, die angeschafften Bücher weiter zu verkaufen, brachte ich das nie übers Herz – egal, wie sehr ich mich durch das ein oder andere Werk hatte quälen müssen. Die Bücher zogen alle mit mir mit, und mit jedem Semester wurden es mehr. Hinzu addierten sich geschenkte und selbstgekaufte Bücher, und endlich im Besitz eines Bibliotheksnutzerausweises lieh ich mir immer wieder welche aus der Universitätsbibliothek aus – die meistens ungelesen auf einem Stapel ihr Dasein fristeten, bis ihre Leihfrist ablief. Tsundoku.

Je mehr ich mich tagsüber mit Texten beschäftige, ob im Studium oder jetzt im Beruf, desto weniger Energie habe ich für gewöhnlich zum Genusslesen. Zeit raubt außerdem das regelmäßige Wiederlesen von Lieblingsbücher. Währenddessen wächst der Stapel ungelesener Bücher, in Vielleserkreisen oft schlicht SUB abgekürzt, ungehindert weiter. Eine Praktikumsstelle brachte mich an ein Paket mit etwa dreißig Büchern, das meinen SUB auf einen Schlag verdoppelte. Für jedes, das ich im Laufe der Zeit von diesem Stapel las, schien auf wundersame Weise ein neues hinzuzukommen, selbst in finanziell prekären Zeiten. Irgendwann fiel mir nämlich auf, dass Klassiker den unbestreitbaren Vorteil haben, im Erwerb günstiger zu sein. Goethes Gesamtwerk für Eins-neunundneunzig auf den E-Reader? Hervorragend, nehmen wir Schiller doch gleich dazu! Es ist ein Fass ohne Boden, dieses Tsundoku. Eine Sucht.

Allerdings eine gesellschaftlich akzeptierte. Quasi der Zuckerkonsum unter den Sammelsüchten. Man könnte das Problem bekämpfen, wenn man denn wollte, wie etwa die ausgerechnet aus dem Vaterland des Tsundoku stammende, dauergrinsende Ordnungsfanatikerin Marie Kondō, der zufolge man nur so lange alle Bücher entsorgen müsse, die kein Gefühl der Freude in ihrem Besitzer wecken, bis nur noch über den Daumen dreißig Exemplare übrig sind. Faszinierend, wie einem Land, das ein Wort für das leidenschaftliche Sammeln noch zu lesender Bücher erfindet, eine derart bestialische Methode des Büchermords entwachsen konnte. (Möglicherweise ein Grund dafür, dass Kondō in der ihr eigenen Netflixserie nur amerikanische Familien demütigt.)

Aber möchte man dieses „Problem“ überhaupt bekämpfen? Im Gegensatz zu vielen anderen Süchten hat das Bücherhorten in der Regel kaum negative Auswirkungen auf das soziale Umfeld. Gut, wenn die Statik des Wohnzimmers aufgrund sich biegender Regale gefährdet ist, sollte man die Reißleine ziehen. Bis dahin können Menschen sogar vom Tsundoku ihrer Bekannten und Verwandten profitieren: Wo sonst findet man so günstige und vielfältige Lektüren wie in der privaten Sammlung eines passionierten Büchersammlers? Und in gewissen Situationen kann sich ein sorgfältig angelegter literarischer Vorrat als wohlüberlegte Investition erweisen und ein vermeintliches Problem doch ein Teil der Lösung werden: Die nächsten Pandemieeinschränkungen kommen bestimmt, und damit endlich auch die Möglichkeit und Muße, sich tatkräftig seinem Stapel ungelesener Bücher zu widmen!

Darum finde ich, es wird Zeit, sich freimütig zum Tsundoku zu bekennen und sich bei allen Minimalismustrends auf die positiven Aspekte des Bücherbesitzes zu besinnen. (Und wenn die Wohnung irgendwann doch zu vollgestopft erscheint, hier ein Tipp: Digital stapelt es sich einhundertmal höher!)


[1] Sanders, Ella Frances: Lost in Translation. Unübersetzbare Wörter aus der ganzen Welt. Übers. Marion Herbert. DuMont: Köln, 2017.


Alina Beckers Blog: Alina schreibt

Alina Becker auf KeinVerlag.de: Skala

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