Archiv der Kategorie: Lyrik

L’étranger – Guten Morgen

Die Nacht verrinnt, die Dunkelheit entschwindet,
verkriecht sich hinter meinem Wimpernschlag,
ich warte bis der Schlaf mich ganz entbindet,
und sinke mit der Erde in den Tag.

Gedanken kullern aus den stummen Ecken,
das Moll sitzt stumpf mit mir am Frühstückstisch,
wo Kaffeetassen mit den Zähnen blecken,
vom Spiegel glotzt ein ziemlich toter Fisch.

Jetzt zwängt die Uhrzeit mich in enge Kleider,
ein Riesenlöffel drückt mich in die Schuhe rein,
das Handy hupt und spielt den Spaßvermeider,
derweil die Häuser Knautschgesichter spein.

Die Bahn verschlingt die unbekannten Leute
und spuckt sie andernorts vor einen Glaspalast
der Arbeitsplatz versetzt mich hart ins Heute,
die Welt begrüßt den ungeliebten Gast.


Lyrik von L’étranger findet ihr auf seinem KeinVerlag-Autorenprofil: Létranger sowie auf seiner Homepage: Gedichte von Philipp Létranger.

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I. J. Melodia – Dreizehn Monate

Die Tage tragen Blau
an unserer Bürde
legen sich aufs Land
wie der Mantel des Schweigens
auch auf die Münder
sprachlos hinter der Maske

Die Lungen stehen still
wir halten den Atem an

Ansteckung
du bist neue Heimat
die Grenze unseres Raumes
auf der Flucht nach innen
ob wir wollen oder nicht
fassen wir die Zukunft
mit Handschuhen an
aus Angst
sie könnte zerbrechen

Wir zählen die Tage
die leeren Straßen und Plätze
an allen Fingern ab
und beginnen von vorne

ein letztes Mal


Lyrik, Haiku und mehr von I. J. Melodia findet ihr auf seiner Homepage und auf seinem KeinVerlag-Autorprofil: Melodia.

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Bastian Kienitz – Die Artistin

(nach dem gleichnamigen Bild von Ernst Ludwig Kirchner)

dein Blick streift durch die Zimmerleere
der Einsamkeit, ganz ohne Publikum
durchschneidest du die grüne Lichttapete
und Schnittmenge, die einen Anker sucht

verortet zwischen Raum und schrägen Fluchten
begradigt mittlerweile durch das Nichts
das feinen Staub ansammelt und dort liegt
wo es vergessen wird, im Ungenutzten…

jetzt träumst du dich in einen Augenblick
dahinter, wo der Wein von letzter Nacht
am alten Platz in deinem Zimmer steht

nur deine Katze streckt bereits verschlafen
die Glieder aus und legt sich wieder hin:
ich tröste dich – mein Stern – und das Gedicht


Lyrik, Haiku, Aphorismen und mehr von Bastian Kienitz findet ihr auf seinem KeinVerlag-Autorprofil: wa bash.

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Werner Weimar-Mazur – nocturne

wer mich kannte wusste
dass ich gedichte vom himmel herunterlog
in ihnen schwimmen fische durch leuchtreklamen
steigen über den schildern luft- und sprechblasen auf
in die lichtglocke über der stadt
werden stimmen beschworen
urtümliche laute aus u-bahnschächten
mischen sich mit dem rascheln der lindenblätter
vom warschauer platz vom czernowitzer platz
vom donauufer in budapest und vom schwarzmeer bei odessa

wer mich kannte wusste
dass in meinen vom himmel heruntergelogenen gedichten
am horizont schneeberge aufragen
über die singschwäne in ferne geschichten ziehen
die an orten wie teheran und kabul spielen
wo mädchen am straßenrand stehen
burschen bei reiterspielen zuwinken
und später dann weinen
wenn die toten körper der burschen
auf lastwagen in die stadt zurückkehren

wer mich kannte wusste
dass selbst das blau am himmel lüge ist
in ihm spiegeln sich die augen von geckos
die an hauswänden hocken auf das ende der zeit warten
und von menschen beobachtet werden die glauben
sie brächten ihnen glück
weshalb die augen der menschen dann blau wie der himmel
leuchten

ich bog um die nächste straßenecke
sah fische und hörte singschwäne
und die nacht und die lügen nahmen kein ende


Jede Menge Lyrik, Prosa und mehr von Werner Weimar-Mazur findet ihr auf seiner Homepage: weimar-mazur.de