Archiv der Kategorie: Lyrik

Johanna Hansen – lockmittel

duft von gras aufs frisch gebackene brot
schneiden die gärtner auf dem grünstreifen.
vielleicht verkauft eine bäckerei heute mitten
im häusermeer liebesorakel in diese welt aus
stop and go unter vibrierenden netzen
aus momentaufnahmen. sie spucken einen
zitronenfalter in den luftzug auf der haut.
sein flug ist der wirbel. in dem ich lautlos die
lippen bewegte wie um eine lichtquelle.
wie endlosketten von flügelschlägen
gegen lebensbeschleunigungselixiere.
schon eine ampelphase weiter. die
gewohnten geräusche (vom reißbrett
der stadt) für die geraffte vollkommenheit
der zahl.

gebt mir scheuklappen

mit schwarzen tulpen bestickte etüden.
umgearbeitet zu lampenschirmen
aus kinderbuchseide. die essenz
beschneiter erde. mein mund ist voller
scharf schmeckender halme


Aus ihrem Buch „Zugluft der Stille“, edition offenes feld, hrsg, von Jürgen Brôcan.

Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Johanna Hansen.

16 Fragen an Johanna Hansen

Wir freuen uns, euch erneut jemand Neues auf den 16 Seiten vorstellen und wie immer erfolgt das anhand einer kleinen Selbstvorstellung und der 16 Fragen.

Viel Spaß beim Kennenlernen von Johanna Hansen:

16 Fragen an Johanna Hansen

Autorin, Malerin, Buchillustratorin. Herausgeberin der Literaturzeitschrift WORTSCHAU. Lebt in Düsseldorf. Zunächst Lehrerin und Journalistin. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Seit 2008 Publikationen vor allem von Lyrik in Kombination mit eigenen Bildern. In Zusammenarbeit mit Musiker:innen und Komponist:innen entstehen Performances, Buch/CD Projekte und Poesie-Filme. Gedichte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt.

  • Veröffentlichungen (Auswahl):
  • Mondhase an Mondfisch, Künstlerinnenbuch, Wortschau Verlag 2022
  • Tischtuchnotizen, Künstlerinnenbuch, Wortschau Verlag 2021
  • zugluft der stille, gedichte und bilder, edition offenes feld 2020
  • Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand, ein deutsch-amerikanischer Briefwechsel, Wortschau Verlag 2019
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Werner Weimar-Mazur – jährungen 100/50

Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
Die Zeit kehrt zurück in die Schale.
(Paul Celan, Corona, in: Mohn und Gedächtnis, Gedichte, Stuttgart, 1952)

es tut gut
nach einem todeszyklus wieder ein gedicht
über das leben zu schreiben
zehn gedichte über die zehntägige reise eines leichnams in einem fluss
über eine strecke von zehn kilometern
vom pont mirabeau nach courbevoie
und zehn tage später weiter nach thiais
sind zu viel

der erste tag im toten winkel
der erste kilometer
ist der schwerste
der tod zählt nicht rückwärts nicht vorwärts
alles sterben geschieht gleichzeitig

in diesen fluss passt kein langgedicht
kein blick nach einem fisch
keine hand die den aal fängt
der sich windet mit dem fluss
streift deine stimme das wasser

dieser fluss fließt
von der mündung zur quelle
ein nebenfluss nur
der endet
an seiner quelle
deinem meer

(aus: Werner Weimar-Mazur: vivisektionen. Gedichte. Edition Offenes Feld (Hrsg. Jürgen Brôcan), Dortmund, 2022)


Jede Menge Lyrik, Prosa und mehr von Werner Weimar-Mazur findet ihr auf seiner Homepage: weimar-mazur.de

Hier geht es zu den 16 Fragen von Werner Weimar-Mazur.

Philipp Schaab – Herbstlaub, Totholz

Von Blut sind weiße Westen rot befleckt,
Verschmutzte Fingerspitzen zitternd tasten,
Die Unschuld suchend, im Serviettenkasten.
Von Leichen sind die Straßen überdeckt,
Gehäuft wie Totholz nach dem Baumentasten.

So liegen sie in Massen kreuz und quer,
Gekrümmt wie Herbstlaub an Novembertagen,
Erschossen, abgestochen, totgeschlagen.
Vermummte mit Macheten und Gewehr,
Ersticken jedes Wimmern und Wehklagen.

An Stricken drehen Tote sich im Kreis,
Wie schwere Fahnen träge zu Paraden
Hoch an Laternen oder Balustraden,
Die Farben wechselnd, hin zu grau und weiß,
Erzittern sie vom Schlag der Kanonaden.

Aus einem Keller dringt ein Schrei heraus,
Versucht mit Aschewolken aufzusteigen,
Bricht plötzlich ab, fällt in ein Loch aus Schweigen,
Soldaten werfen einen Leib hinaus,
Dem Hunde hungrig ihre Zähne zeigen.

Die Raben aber ruhen friedlich satt.
Der Abend legt sich auf die Kriegsroutine,
Im sanften Klang der Glocken, Muezzine
Kühlt ab die kampfesschwüle Leichenstadt
Und irgendwo tritt wer auf eine Mine.

Gemächlich schleppt sich hin der Untergang,
Die Kommandeure, stolz wie Silberrücken,
Verschießen Kugelsalven voll Entzücken,
Sie sagen sich, der Krieg geht nicht mehr lang
Und flüchten hastig vor dem Schwarm der Mücken.


Lyrik, Prosa sowie weitere Informationen über Philipp Schaab findet ihr auf seiner Homepage: Gewitterdämmerung sowie auf seinem KeinVerlag-Autorprofil: HerrDerSchädel.