Archiv der Kategorie: Prosa

Lesego Mosupyoe – Kwaito trifft Klassik

(nach einer wahren Begebenheit)[1]

Nach einer knappen Stunde bin ich am Ziel. Eigentlich bin ich enttäuscht, dass die Fahrt schon zu Ende ist. Die interessanten Gespräche im Minibus-Taxi waren sehr erfrischend. Nicht minder erquicklich waren die lebhaften Rhythmen und Melodien des Maskanda, einer Lieblingsgattung vieler Taxi-Fahrer.

Wie vereinbart treffe ich Themba Nkosi an der Hauptstraße in Tshiawelo, einem Stadtteil von Soweto. Heute darf ich einen Blick hinter die Kulissen seiner Musikschule werfen. Themba ist in Tshiawelo aufgewachsen, er kennt hier jeden Winkel. Der Fußmarsch führt an Wohnhäusern, Läden und einer Kneipe vorbei. Uns begleitet eine Sinfonie aus unterschiedlichsten Klängen, Düften, Farben …

Das Musikschulgebäude befindet sich hinter Thembas Wohnhaus. Der Bau wurde mit Unterstützung des südafrikanischen Kultusministeriums finanziert. Der Raum links ist mit Schulbänken und Regalen ausgestattet. Hier findet der Musiktheorieunterricht statt und hier ist auch die hauseigene Bibliothek untergebracht. Der Raum rechts ist für den Instrumentalunterricht und für Proben gedacht. Bis zum Jahr 2016 fand der Unterricht in Thembas Wohnzimmer sowie unter freiem Himmel statt. Dass Gemüsegarten und Hühnerstall dem Musikschulgebäude weichen mussten, stört Themba nicht im Geringsten. Lebensmittel kann man auch kaufen. Der Unterricht beginnt in etwa zwei Stunden. Bis zur Ankunft der Schülerinnen und Schüler machen wir es uns im Wohnzimmer gemütlich. Mein Gastgeber erzählt von der Musikschule und zeigt mir Dokumente.

Die Tshiawelo Music Academy hat Themba gemeinsam mit seiner inzwischen verstorbenen Frau gegründet. Strahlend erzählt er davon, wie seine geliebte Boitumelo mit den Heranwachsenden musizierte und tanzte. „Sie war fantastisch! Die Kinder liebten sie!“ Damals betreute sie die Kinder im Grundschulalter, er die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Heute ist der inzwischen Fünfundvierzigjährige für alle Altersgruppen verantwortlich, gelegentlich assistieren ihm Freiwillige. Auch Themba erhält kein Gehalt, das gleiche galt für Boitumelo. Dafür sind die Spenden und Einnahmen nicht ausreichend. Viele der Schülerinnen und Schüler kommen aus Elternhäusern mit niedrigem Einkommen, folglich wird keine Unterrichtsgebühr erhoben. Aus demselben Grund stellt die Tshiawelo Music Academy den Kindern Musikinstrumente leihweise sowie Lernmaterial kostenfrei zur Verfügung. Der Unterricht findet dienstags, samstags und sonntags statt, jeweils am Nachmittag. An den anderen Tagen arbeitet Themba in der Verwaltung einer Grundschule. Davor hat der Autodidakt diverse Tätigkeiten ausgeübt. „Der Job an der Schule ist ein Geschenk des Himmels“, sagt Themba. „Schon seit meiner Jugend schlägt mein Herz für Bildung.“

Die Entstehung und Entwicklung der fünfzehn Jahre alten Musikschule sind auf Fotos, Urkunden und Programmheften sowie in Skizzen und Briefen dokumentiert. In der Regel legen die Schülerinnen und Schüler mindestens einmal im Jahr eine Instrumentalspiel- sowie eine Musiktheorieprüfung ab. Themba empfiehlt ihnen vornehmlich die Graded Music Examinations der Associated Boards of the Royal Schools of Music. Ferner nehmen ausgewählte Schülerinnen und Schüler an Wettbewerben teil. Im Laufe der Jahre haben sich einige der jungen Menschen für einen musikbezogenen Beruf entschieden. Stolz erzählt Themba von zwei ehemaligen Schülern, die heute in einem Ensemble der South African National Defence Force spielen sowie von einem, der an der Wits University Musik studiert. Einmal im Jahr – meistens Anfang Dezember – findet ein Schulkonzert statt. Veranstaltungsort ist die Light and Grace Church im Stadtteil Diepkloof. „Die Leute lieben unsere Konzerte, die Karten sind immer ausverkauft“, prahlt der sonst sehr bescheidene Themba. Des Weiteren werden die Schülerinnen und Schüler gelegentlich zu Auftritten eingeladen, zum Beispiel in Einkaufszentren oder auf Feiern, was ebenfalls der Musikschulkasse zugutekommt. Zuweilen kooperiert die Tshiawelo Music Academy mit lokal und international tätigen Institutionen oder Personen.

Nun wechselt die Szene in den Unterrichtsraum. Zunächst gilt Thembas Aufmerksamkeit einer Klasse von Anfängerinnen und Anfängern. Heute studiert das Blockflötenensemble eine Bearbeitung einer Verdi-Arie ein. „Im ersten Schuljahr lernt jeder Blockflöte“, erklärt Themba. „Das ist das Fundament. Danach kann man zu einem anderen Instrument wechseln.“ Er selbst beherrscht und unterrichtet sämtliche Blasinstrumente. „Im Prinzip gilt für alle die gleiche Spieltechnik.“ Heute darf ich Themba zur Hand gehen. Mit Sorgfalt wird auf Einzelheiten eingegangen. Die Schülerinnen und Schüler werden sowohl individuell als auch in kleineren Gruppen bedarfsorientiert gefördert.

Als nächstes steht der Musiktheorieunterricht für Fortgeschrittene an. Bei der Ankunft hört einer der Jugendlichen Kwaito-Musik am Handy. Freudig singend dabei mehr tanzend als gehend – betritt er den Unterrichtsraum. Themba, ein paar Kinder und ich stimmen spontan ein. Im Musiktheorieunterricht werden die Jugendlichen auf Prüfungen vorbereitet. Zudem darf jeder, der möchte, in diesem Rahmen eine Eigenkomposition oder Bearbeitung vorlegen. Nach Absprache werden betreffende musiktheoretische Aspekte in den Unterricht integriert, nach Möglichkeit werden die Schülerwerke aufgeführt. So schreibt beispielsweise die sechzehn Jahre alte Lesedi an einem Auftragswerk für einen Chor mit Sitz im 600 km entfernten Durban. „Mein Onkel leitet den Chor, der regelmäßig landesweit auftritt“, erklärt sie. Ein Blick auf die Partitur zeigt einen eklektischen Stil: Einerseits lässt der vierstimmige Satz auf westliche Vorbilder schließen, andererseits erinnert die zyklische Form an afrikanische Musik.

Der zweistündigen Unterrichtseinheit folgen Gedankenaustausch und Abschied. Auf dem Heimweg nehme ich die Kulisse von Soweto kaum wahr. Für mich ist die Erinnerung an Thembas Musikschule viel lebendiger.


[1] Aus ethischen Gründen gebe ich folgende fiktive Namen (anstelle der realen) an: Tshiawelo Music Academy, Themba Nkosi, Boitumelo, Light and Grace Church. Weiterhin sind die realen Einrichtungen jeweils nicht in Tshiawelo und Diepkloof, sondern in anderen Stadtteilen von Soweto gelegen. Die Figur „Lesedi“ ist erfunden.


Hier geht es zu den 16 Fragen an Lesego Mosupyoe.

Bastian Kienitz – casino royal

erst zog sie den Herzbuben aus der Tasche, dann zog sie mich aus:

mit ihren warmen Blicken und den leichten Malen an den Brüsten,
so dass ich alles was darunter lag erfassen konnte. versuchte ich
mich zu konzentrieren,
ertrank ich in den schmelzenden Eisbergen, die sich vor mir auf-
taten, um wenig später festzustellen, dass ich den nächsten Blind
verlor.

                                                Zug um Zug. bis alle Karten offen lagen.


Lyrik, Haiku, Aphorismen und mehr von Bastian Kienitz findet ihr auf seinem KeinVerlag-Autorprofil: wa bash.

Hier geht es auch zu den 16 Fragen mit Bastian Kienitz.

I. J. Melodia – Kindertage

Der Schnee reflektiert die Sonne, strahlt in die Gegenwart. Lucian blickt über den Horizont der Alpen in die Ferne; in die Vergangenheit. Wie damals als Kind, auf den Wanderungen mit meinem Vater. Ein Seufzer vermischt sich mit Lucians Atem, sie legen sich gemeinsam in die Kälte.

Was meinte tată beim Ausflug ins Făgăraș? Dieses Gebirge sei das Rückgrat des Landes. Im Nachhinein ironisch aus dem Munde des Mannes, der uns verlassen hat. Lucian setzt sich, zieht die Handschuhe aus, berührt den Schnee. In Gedanken spürt er dem Schmerz nach, dieser Kerbe in der Erinnerung.

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Urs Jenni – Staubsauger

Als dynamischer Einzelhandelsunternehmer ist man immer auf der Suche nach
unerfüllten Kundenwünschen. Und so kam es, dass ich in meinem Dorfladen eine
Kundenumfrage startete und ich von meinen Kunden wissen wollte, was ihnen in
meinem Sortiment fehle.

Nach zwei Wochen begann ich mit der Auswertung der erhobenen Daten. Das
Resultat war ernüchternd: 80% der Produkte, welche von den Kunden vermisst
wurden (ihr dürft raten!), gibt es bereits in unserem Geschäft. Vielleicht nur im 300
g Glas und nicht im 350 g, aber dennoch: Erdbeerkonfitüre gibt es hier zu kaufen!

Die restlichen 20% der vermissten Artikel waren Staubsauger! Dass ich da nicht
schon früher darauf gekommen bin!

Umgehend machte ich mich auf die Suche nach geeigneten Produkten.

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Constanze Thum – Tilde fünf oder: warum Überfälle auf Kleintransporter schlecht sind

„Den besten Sex meines Lebens hatte ich mit mir selber und einer Shampooflasche“, erklärt sie mir.
„Ich wollte eigentlich nur wissen, ob du noch einen Cuba Libre möchtest“, sage ich.
„In der Dusche“, fährt sie unbeirrt fort, „das war dann auch mein erster Orgasmus. Das nennt sich feministische Emanzipation, weißt du? Das ist wahre Freiheit.“
„Cool“, sage ich, „aber ich muss dann auch so langsam. Ich muss noch ein bisschen was machen.“
„Ich auch,“ sagt der Mann am Nebentisch und fängt an zu weinen. Vor ihm stapeln sich Ordner. Sein Laptop ist gerade ausgegangen.
„Hier“, sage ich und händige ihm meine Powerbank. Er starrt mich fassungslos an.
„Hast du dein Leben so sehr im Griff, dass deine Powerbank immer geladen ist?“, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern und gehe.

Draußen regnet es. Wieder rein gehen will ich aber nicht mehr, da reden die Leute entweder über Sex oder Arbeit und das ist nicht so mein Thema.
Glück ist wie eine streunende Katze, überlege ich vor mich hin. Manchmal sucht sie dich auf, manchmal wirst du ignoriert. Heute Nacht werde ich definitiv ignoriert.
Am Waldrand meine ich einen Fuchs gesehen zu haben. Wie süß der mit seinem Hut aussieht, denke ich noch so bei mir, versenke die Hände in den Manteltaschen und laufe mit gesenktem Kopf und hochgestelltem Kragen durch den nächtlichen Regen. So macht man das nämlich, schreibt das Gesetz der guten Literatur vor.
Intimschatulle, nur Graustufen:
Am Hafen hat’s Sturmböen von 70 km/h.
Ein Schiff hier heißt Randolph Carter. Bin kurz amüsiert.
Seeadler gesehen.

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