Christiane Portele – Gedankenplätschern und Gedankenflüge

Wenn sie an einem dieser diesigen Frühsommertage aufs Meer sah, so schien die Horizontlinie zu verschwimmen, die Grenze zwischen Wasser und Luft sich aufzulösen, Meer und Himmel ineinander überzugehen. Wie auf einem Gemälde, wenn ein feiner Strich immer blasser wurde und irgendwann nicht mehr zu erkennen war. Die Farbschattierung näherte sich zu dieser nicht mehr vorhandenen Linie hin aneinander an, wurde zu einem gemeinsamen Farbton. War der Himmel pastellfarben, ein weiches, wässriges Blau, das Meer hingegen ein kräftiges Türkis, so schien der Himmel zum Meer hin kräftiger, das Meer zum Himmel hin feiner zu werden, bis sie sich vermengten, zu einer Farbe verschmolzen.

Sie stellte sich dann vor, wie Luft und Wasser zu einer Masse, einer Mischung wurden, einen Aggregatszustand teilten, ineinander zerflossen, nicht mehr Flüssigkeit noch Gas, ein einheitliches Gemenge. Vielleicht jedoch wirbelten auch ganz feine Tröpfchen mitten durch die Luftmoleküle hindurch. So fein, dass alles wie eins erschien.

Sie fühlte sich dann leicht, imaginierte sich selbst als ein kleines, feines Molekül, nicht Wasser, nicht Luft, das die verschwommene Horizontlinie umtanzte, ganz leichtfüßig, beinahe schwerelos, eins war mit Wasser und Luft. Sich selbst auflöste und zu einem schwebenden Tanz wurde, reine Bewegung, Teil der Elemente. Die Schwere, die ihr als Person aus Fleisch und Blut, Haut und Knochen anhaftete, verschwand einfach.

Sobald sie diesen Gedanken dachte, fühlte sie wieder die Beschränkungen, die ihr ihr Dasein als Mensch auferlegte. Die Schwerkraft, die sie nach unten zog. Ihr wurde schwer ums Herz.

Sie beobachtete eine Möwe, die sich elegant in die Lüfte erhob, hoch oben auf einem Luftzug ruhte, um dann pfeilschnell im Sturzflug ins Wasser zu schießen. Wenigstens ein Vogel zu sein, dachte sie. Sich mit kräftigen Schwingen in die Luft zu erheben, hoch über dem Meer durch den Himmel zu gleiten, sich von der Thermik führen zu lassen. Sich fallen zu lassen und zu wissen, dass der Wind mich trägt.

Von dem Felsen vor der Küste aus, zu dem sie durch knietiefes Nass gewatet war, sah sie im klaren Wasser, das heute kaum Wellen erzeugte, wie sich Fische tummelten. Sie glitten durch das Meer, manchmal so schnell, dass sie eher Schatten als Körper zu sein schienen. Sie schwammen übereinander und untereinander, nach einem für sie nicht erkennbaren Muster. Ein Fisch zu sein, sich mühelos im Wasser zu bewegen. Sich mit der Strömung treiben zu lassen, dann ohne große Anstrengung die Richtung zu wechseln. Mit einer leichten Bewegung der Schwanzflosse. Nicht atmen zu müssen, keine Lungen, die beim Tauchen nach Luft verlangten.

Ah! Sie fühlte sich gleichzeitig euphorisch und frustriert. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunder von Himmel und Meer, Vögeln und Fischen und dem deprimierenden Gefühl, als Mensch weder fliegen, noch unbegrenzt unter Wasser sein zu können. Sie spürte überdeutlich ihre Grenzen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Sie nahm den rauen, harten, felsigen Untergrund unter ihrem Gesäß wahr, die Kante an ihrem Oberschenkel, wo ihre Beine über den Felsen hinausragten. Sie genoss die ganz leichte Brise, die die nackte Haut ihrer Arme streichelte, ihre von der Sonne erhitzten Wangen liebkoste. Ihre Zehen wurden vom Meerwasser umspült. Eine angenehme Kühle umschmeichelte ihre Sohle. Die geringe Strömung empfand sie als leichten Sog, der schwach an ihren Füssen zog.

Sie lehnte sich zurück, wendete ihr Gesicht der Sonne zu und wurde ganz ruhig. Die Füße im Meer, den Kopf in der Luft, ihren Schwerpunkt auf dem Fels, atmete sie in tiefen Zügen die salzige Luft ein. Spürte ihrem Atem nach, der sich seinen Weg bis in ihren Unterleib bahnte. Vielleicht waren ihre menschlichen Grenzen gut so wie sie waren. Die Schwere ihres Gewichts ermöglichte es ihr, die Leichtigkeit eines Windzugs zu spüren, das verspielte Plätschern einer sanften Welle. Sie konnte auch einer heftigen Brandung standhalten oder einer kräftigen Sturmbö. Sie liebte das Wasser und sie liebte die Luft. Sie konnte sich angesichts einer verschwimmenden Horizontlinie in Gedanken verlieren und dann wieder zurückfinden. In ihren Körper, in ihr Mensch-Sein. Auf ihren Felsen vor der Küste. Die Füße im Wasser, den Kopf im Himmel. Sie konnte in ihrer Fantasie mit den Vögeln fliegen und mit den Fischen schwimmen. Und trotzdem Mensch sein. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte sie.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Christiane Portele.

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