Christiane Portele – Malaika

Manche Tage sind wie wilde Strudel. Ich spüre den Sog, der mich in einen schwarzen Schlund hinabzieht. Ich versuche, dagegen anzukämpfen, doch ich bin wie gelähmt. Meine Glieder verweigern mir den Dienst. Ich weiß, wenn es mir nicht gelingt, dem Sog zu entkommen, dann ist es aus mit mir. Dann werde ich verschluckt. Verschluckt von meiner Trauer.

Noch habe ich nicht aufgegeben. Doch ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte. Der Schmerz presst mir die Luft aus den Lungen, raubt mir den Atem.

Ich bin so unendlich müde. Ich sehne mich so sehr nach Schlaf. Doch jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Malaika vor mir, mein Engelchen, meine kleine Elfe, die mich mit ihren großen Rehaugen anschaut. So viel Sehnsucht nach Leben im Blick. So viel Vertrauen zu mir, ihrer Mama. Und ich kann nichts tun, als ihre Hand zu halten und sie zu begleiten.

Ich saß bei ihr, bis sie ihren letzten Atemzug tat. Und noch viel länger. Ich wollte ihre Hand nicht loslassen. Es fühlte sich so an, wie wenn mir mit ihrer Hand auch mein Herz entrissen würde

Der Überlebenstrieb des Menschen ist ein zäher Hund und gibt so schnell nicht auf. Weswegen ich gegen den Strudel, das Ersticken und die Müdigkeit ankämpfe. Jeden Tag aufs Neue. Ich mache Sisyphus Konkurrenz. Weswegen mein kleines Mädchen so lange am Leben blieb, viel länger als die Ärzte prognostiziert hatten. Und trotzdem viel zu kurz. Sie klebte am Leben, krallte sich daran fest mit der ganzen Kraft ihrer zarten Finger.

Schon als sie noch gesund war, war sie eine Fee, klein und zierlich, mit langen dunklen Haaren und großen braunen Augen. Meist trug sie Kleider mit Blümchenmuster. Sie liebte es, sich im Kreis zu drehen, so wild und ausgelassen, dass ihre Haare und Röcke flogen. Je länger sie krank war und je näher sie dem Tod kam, desto durchscheinender wurde ihre Haut. Malaika, ich vermisse dich! Dein Lächeln, wenn du in meine Arme ranntest, das Funkeln in deinen Augen, wenn du etwas ausgefressen hattest, deine Schnute, wenn du nicht deinen Willen bekamst.

Dein Vater ist ausgezogen, kurz nach deinem Tod. Er konnte mich in meiner Trauer nicht aushalten. Jedes Mal, wenn er mich sah, dachte er an dich. Meine Wangengrübchen waren auch deine Wangengrübchen. Das war mehr als er ertragen konnte. Und so bin ich alleine. Ohne dich und ohne ihn. Mit dir habe ich auch deinen Vater verloren. Ich kann ihm nicht böse sein. Jeder geht anders mit der Trauer um. Wir treffen uns regelmäßig an deinem Grab. Wenn wir es zuhause nicht mehr aushalten, zieht es uns beide dorthin. Ich fühle mich dir dort nahe. Ich habe dir Tausendschönchen auf dein Grab gepflanzt. Die zartrosa Blüten waren deine Lieblingsblumen. Oft stehen wir einfach vor deinem Grab, Hand in Hand und denken an dich. Wir können noch nicht über dich reden, dazu ist der Verlust noch zu frisch. Ob wir es je können werden? Ich weiß es nicht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Schmerz je weniger wird.

Alle haben sich von mir zurückgezogen, außer Ina, meine Schwester. Sie war da, als wir die Diagnose erhielten, sie saß an deinem Bett, wenn wir eine Pause brauchten, sie war bei uns, als du von uns gingst. Sie besucht mich und macht mir Tee, wir gehen spazieren und ich weiß, ich muss nicht sprechen. Sie weiß, wie es mir geht. Ich bin ihr sehr dankbar dafür, dass sie da ist. Dass sie mich begleitet. Dass sie mir keine Vorhaltungen macht und zu wissen meint, was mir guttun würde. Ich weiß selbst, dass ich dich loslassen muss, Malaika. Aber ich kann es nicht. Ich will es nicht. Ich kann dich noch nicht ziehen lassen. Du bist doch mein Sonnenscheinchen. Meine Lebensfreude. So wie du dich ans Leben gekrallt hast, so kralle ich mich an die Erinnerung an dich.

Gestern, als ich mit Ina spazieren war, lenkten unsere Schritte uns zu deinem Grab. Wir standen lange dort. Ich weinte, eine gefühlte Ewigkeit. Ina legte ihre Hand in meinen Rücken und hielt den Kontakt mit mir. Als meine Schluchzer verebbten, sprach sie von dir. Sie sagte mir, du habest ihr eine Nachricht an mich aufgetragen, wenige Tage vor deinem Tod.

„Malaika hat mich gebeten, dir folgendes zu sagen, wenn es dir besonders schlecht geht: Mama, sei nicht zu traurig. Ich bin ja nicht ganz weg, In deiner Erinnerung bin ich immer bei dir. Und in deinem Herzen. Du musst wieder fröhlich sein und dein Leben für uns beide leben. Ich kann es ja nicht mehr tun.“

Ach Malaika, auch nach deinem Tod, triffst du mich mitten ins Herz! Wie könnte ich deinem letzten Wunsch nicht entsprechen. Gib mir Zeit und ich verspreche, ich werde mein Leben für uns beide leben. Irgendwann.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Christiane Portele.

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