Felix Anker – Mann über Bord, Karl!

Die Symptome waren eindeutig. Im Baum schrien die Vögel, vor dem Fenster bienten die Bienen und die Sonne stürzte sich auf meine Zehen wie ein hungriger Schwan. Ich war zwar kein Doktor, aber meine Diagnose war klar: es musste Morgen sein. Ich beschloss, das naturalistische Potpourri zu ignorieren und wendete mich wieder meinem erholsamen Samstagmorgenschlaf zu.

Lange konnte ich die wohlverdiente Schlummerei nicht genießen, denn gerade als ich tief in einen vielschichtigen Traum fiel, spürte ich einen steinigen Schmerz an meinem Fuß, gefolgt von einem zweiten am Kopf. Wer immer hier mit Kieselsteinen warf, war darin wohlgeübt. Ich war allerdings kein Mensch, der Gefallen an Gewalt fand und so warf ich statt Steinen einen wohlüberlegten Satz zurück zum Absender.
„Was hat dieses Brimborium zu bedeuten?“ Dieses delikate Wort hatte ich vor nicht allzu langer Zeit in meinen Wortschatz aufgenommen und war mir sicher, dass ich es dieses Mal korrekt verwendet hatte.
„Karl“, rief eine Stimme durchs Fenster. Ich spielte den Ball zurück.
„Wilhelm!“
„Willi“, korrigierte er mich, da sein Vater und sein Großvater ebenfalls Wilhelm hießen und es hier zu keiner Verwechslung kommen sollte.
„Willi“, rief ich korrekt zurück.
„Karl“, rief Willi wieder. So kamen wir nicht weiter. Ich kämpfte mich aus der behütenden Bettdecke und hängte meine Birne aus dem Fenster.

Draußen waren die Umstände wie ich sie mir ausgemalt und in den letzten Wochen schon gesehen hatte. Bienen, Vögel, sogar Blumen und alles, was einen an einem Sommermorgen überhaupt nicht überraschte. Bis auf eine Sache: Willi, der da gut bebrillt in meinem Garten stand und anscheinend einen Baum mitgebracht hatte, der ihn um einen Kopf überragte.

„Willi, warum störest du meines Geistes Schlaf an diesem neugeborenen Tage?“
„Morgen, Karl“, antwortete er weniger wortreich, „hast du wieder versucht, dich intellektuell zu betätigen?“
Das war richtig. Ich hatte in den letzten Wochen sehr viel Kopfarbeit geleistet und mich durch die Bücher der großen Geister unserer Vorzeit gekämpft. Schiller, Goethe, das ganze Brimborium. Bisher war es mir aber nicht gelungen, meinen neuerlangten, wohlfeinen Verstand an den einfachen Mann zu bringen. Ich beschloss, auf eine simplere Lingu zuzugreifen.
„Du alter Dusel, was machst du hier so früh und warum schleppst du mir einen Baum an?“
„Es ist schon nach elf“, sagte Willi und änderte damit meine Einstellung, wann der Morgen aufzuhören hatte, nicht, „und das ist meine Cousine Charlotte. Ich hab‘ dir doch erzählt, dass sie mich übers Wochenende besuchen kommt.“
„Guten Morgen“, sagte der Baum.
Ihr müsst wissen, ich bin kein großer Mode-Kenner, aber wenn eine Cousine entscheidet, einen grünen Hut und ein braunes Kleid zu tragen, und das Ganze, noch bevor ich überhaupt vollständig erwacht bin, dann ist eine Ähnlichkeit mit einem Baum nicht von der Hand zu weisen.
„Ah“, antwortete ich und dachte mir, dass genau jetzt der allerbeste Zeitpunkt war, mich vorzustellen, auch wenn Willi das schon übernommen hatte.
„Karl“, bot ich der bäumigen Cousine an und dachte mir, wie merkwürdig mein Name klang, wenn ich ihn selbst sagte.
„Charlotte“, gab die Cousine zurück und dachte sich bestimmt etwas Anderes. Dieses Hin- und Herwerfen von Namen brachte uns auch nicht näher an meine ursprüngliche Frage, also ging ich der Sache auf den Grund. Oder dem Pudel auf den Kern, wie der alte Goethe gesagt hätte.
„Sag, Willi, was verschafft mir die Ehre eures so frühen Besuchs?“
„Charlotte wollte dich gerne kennenlernen. Ich habe ihr viel von dir erzählt“, sagte Willi. Das war bizarr. Normalerweise hatten die Frauen vom Kennenlernen schon genug, wenn man ihnen einen ausführlichen Bericht über mich erstattete, aber so, wie ich Willi kenne, hatte er ihr nur die guten Dinge berichtet.
„Sehr erfreut …“, sagte ich.
„Mich freut es auch sehr“, sagte die Cousine und errötete apfelbäumig.
„Karl, wir wollen weiter zu August und schauen, ob er ansprechbar ist. Kommst du mit?“, fragte Willi, aber da auch ich kaum ansprechbar war, lehnte ich dankend ab.
„Wir fahren heute Nachmittag mit dem Boot raus“, fügte die Cousine noch hinzu, „ich fänd’s fabelhaft, wenn du mitkommen würdest.“
Ich gab zu wissen, dass ich mich melden würde, wenn ich endgültig wach wäre, verabschiedete die beiden und schaute zu, wie Willi beim Abgang seiner Cousine meinen Apfelbaum zeigte. Vielleicht eine weitere Verwandte.

Zurück im Bett war an Einschlafen nicht mehr zu denken, daher beschloss ich, dem Tag eine Chance zu geben. Ich griff ein Stück Klamotte vom Boden, steckte den Arm in den Ärmel, nahm den Arm wieder aus dem Ärmel, der sich bei näherer Inspektion als Hosenbein entpuppt hatte und steckte das passende Bein hindurch. Bald schon hatte ich das Wunder der Ankleidens vollzogen und bemühte ich mich in den Garten in Richtung des Hühnerstalls zur morgendlichen Eierernte. Ein Wunderwerk der Natur diese Biester. Jeden Tag ein Ei, sogar an heiligen Sonntagen. Auf dem Weg zum Stall begegnete ich im Garten dem alten Müller.
„Grüß dich, Herr Müller“, sagte ich und er schaute mir erschrocken entgegen, als hätte ich ihn bei einer Schandtat ertappt.
„Miau“, grüßte Herr Müller mürrisch, aber anständig zurück und verschwand dann rasend auf dem Apfelbaum.
Frisch ausgestattet mit gerade gelegten Eiern erreichte ich das Haus, als eine bekannte Stimme durch mein offenes Küchenfenster nach draußen drang.
„Morgen, Karl“, rief August und wie man aus der Küche ruft, so ruft’s zurück.
„August, was führet dich zu meines Hauses in solch früher Stunde?“
„Lass das Goethe-Gebrabbel und komm rein. Ich hab‘ großartige Neuigkeiten.“
Ich folgte seiner Anweisung und ging zurück in die Küche, wo August sich bereits an meinem Brot bediente.
„Also, was gibt es Großartiges?“, fragte ich mit tatsächlicher Neugier, da etwas ganz außerordentlich Extraordinäres passiert sein musste, wenn August aus freien Stücken so früh am Morgen schon sein Haus verlassen hatte.
„Ich bin verliebt, Karl“, rief August, sprang vom Stuhl auf und breitete die Arme aus wie ein Vogel, der erklärte, was es mit diesen Flügeln auf sich hatte.
„Ah“, gab ich zurück, aber wollte dann doch Näheres wissen, „und wer ist die Unglückliche?“
„Die Glückliche“, korrigierte mich August, als ob ich einen Fehler gemacht hätte, „ist Willis wunderbare Cousine Charlotte.“
August und der Baum, wer hätte das erwartet? Wahrscheinlich jeder, der August kannte und wusste, dass er sich oft in Cousinen verliebte, auch in die eigenen, wenn sie nur entfernt genug verwandt waren. Trotzdem schien mir eine so große Cousine doch ein wenig zu überragend.
„Ach, Karl, Liebe kennt keine Grenzen“, sagte August.
„Nach oben schon“, gab ich clever zurück, aber das war August wohl zu hoch. Ich hakte nach: „Was denkt denn die glückliche Cousine über die ganze Chose?“
„Das ist das Problem“, sagte August, „sie hat nämlich ein Auge auf dich geworfen.“
„Den ganzen Weg von da oben runter? Aber da mach dir mal keine Gedanken, ich hab‘ keinerlei Interesse an Willis Cousine.“
„Karl, hast du sie dir überhaupt genau angeschaut? Ein Prachtstück von einer Frau!“, erklärte August wie ein enthusiastischer Baumschullehrer.
„So teile er mir mit, wie ich ihm zu Hülfe kommen kann“, bat ich ihn höchstintellektuell.
„Gut, ich habe einen Plan. Der erste Teil besteht daraus, dass du aufhörst zu sprechen wie ein Geschichtsbuch.“
„Abgemacht“, gab ich zurück und übte mich in Stille.
„Und dann kommst du nachher mit zu Willis Ausflug auf dem Boot.“
Wenn man jemanden so lange kannte, wie ich den August, dann wusste man schon, was er sagen wollte, bevor er seine Gedanken in Worte verpackte.
„Lass mich raten. Ich falle ins Wasser und du rettest mich. Dann denkt Charlotte, du bist ein großer Heros und ihr werdet glücklich, bis die nächste schöne Cousine euch scheidet?“
Natürlich lag ich mit meiner Annahme vollkommen richtig. Aber mit dieser Aktion konnte ich zwei Klappen auf einmal schlagen. August würde seine Liebe des Monats erobern und vor allem würde der Baum das Interesse an mir verlieren. Wer mich kennt, weiß, dass ich ein großer Frauenfreund bin, aber für mich gab es damals nur die eine. Emma. Die ähnelte keinem Baum, nicht mal einem Strauch, sondern einem wundervollen frisch beblühten Blumenfeld, in dem man fröhlich umhertollen wollte.
August bedankte sich und wir verabschiedeten uns bis zum Nachmittag.
Nachdem ich meine brotlosen Eier verzehrt hatte, setzte ich mich auf die alte Bank vor dem Haus und stopfte meine Pfeife. Ich grüßte Herrn Müller, der oben auf dem Apfelbaum saß und mich nicht beachtete, zündete meine Pfeife an und ging den Plan im Kopf durch. So schwierig würde das nicht sein, das mit dem Ertrinken. Also solange ich nicht wirklich ertrank, aber ich war ein fabulöser Schwimmer und hätte es mit jedem noch so tollkühnen Fisch oder dem waghalsigsten Schwan aufnehmen können. Meine Erfahrung hatte mich aber gelehrt, dass man Schwänen zu jeder Zeit besser fernbleiben sollte.

***

Die Sonne lachte hämisch vom Himmel, als ob sie bevorstehendes Unheil ankündigen würde. Unwissend lachte ich ihr entgegen und machte mich auf den Weg zum See. Ich ließ Obergrubenbach hinter mir, ging weiter Richtung Osten, vorbei an Gießlers Hof und den Kühen, die ich selbstverständlich grüßte, weiter bis zum Schweinehof vom alten Otto und bog dann dort in den Wald.
Nach einigen Minuten, die ich sinnierend auf dem Waldweg verbracht hatte, entdeckte ich einen Baum. Das war in einem Wald unter normalen Umständen auch kein unüblicher Anblick. Bei diesem Exemplar handelte es sich allerdings um die Cousine, die dort vorne neben Willi den Weg entlang wandelte.
„Wilhelm“, rief ich ihm gegen den Rücken.
„Willi“, echote er mir gegen den Bauch. Athletisch wie ich war, hatte ich schnell aufgeholt und wir tauschten weniger wichtige Freundlichkeiten aus, bevor ich das elementare Thema aufgriff.
„Ist das nicht schwierig, Boot zu fahren ohne Boot?“, fragte ich mit einem Blick auf das nichtexistente Boot, das die beiden mit sich trugen.
„Mein Onkel Wilhelm war gestern schon auf dem See als er Charlotte gebracht hat“, sagte Willi. Und fügte den Grund der Seefahrt hinzu: „Angeln.“
Was für ein miserables Erlebnis das für den armen Onkel gewesen sein musste. Wir sind hier im Dorf gründlich mit unseren Chronologien und hätte er gewusst, dass der letzte Fisch in Obergrubenbach im Jahre 1634 gefangen wurde, hätte er seine Zeit einer ertragreicheren Tätigkeit gewidmet.
Nach einem wenigminütigen Fußmarsch lag der See vor uns, wie ich ihn kannte: fast rund und ganz nass. An den Steg hatte jemand etwas gebunden, das wohl unser Boot sein musste, und es wäre ein Wunder, wenn wir nicht alle heute ertrinken würden. Das Ding ähnelte einer halben Walnussschale, die, das gebe ich zu, ein ziemlich großer Walnussbaum von sich geworfen haben musste.
August war natürlich zu spät, also setzte ich mich auf den Steg, die Füße ins Wasser und versuchte meine Zehen möglichst wurmig zu bewegen, um Fische anzulocken.
„Da hatte wohl jemand denselben Gedanken wie wir“, sagte die Cousine, die still und heimlich neben mir Platz genommen hatte, und zeigte auf ein Boot auf der gegenüberliegenden Seite des Sees.
„Ah“, entgegnete ich und entschloss, aus Freundlichkeit noch einen Laut davor zu hängen, „ja.“
„Ich find’s schön, dass du mitkommst, Karl“, sagte Charlotte und ich flüchtete mich in ein wetterliches Leitmotiv.
„Warm genug ist’s ja“, sagte ich und hatte es beinahe geschafft, einen Fisch zu berühren.
Bevor die Cousine mich berühren konnte, rettete mich August mit seiner Ankunft. Gemächlich, als hätten wir alle Zeit der Welt, schlich er aus dem Wald, auf dem Kopf einen Hut, der wohl schick sein sollte, und grüßte uns auf eine ganz und gar brimborische Weise.
„Ahoi!“, rief er.
„Ah“, gab ich zurück und „was?“
„Ahoi“, erklärte August, „ist was die echten Kapitäne auf dem Meer sagen. Ich kenn mich da aus, mein Großvater war auf der weiten See.“
Ob die erste Sache stimmte, das wusste ich nicht. Das maritime Milieu war nicht mein Steckenpferd. Aber dass Augusts Großvater des Schwimmens nicht mächtig war, das war im ganzen Grubenbachkreis bekannt. Der war höchstens mal an einem See aber sicher nicht auf oder in einem.
„Wollen wir?“, fragte August, der mittlerweile das Ruder übernommen hatte, bugsierte den Baum ins Boot und kommentierte das Ganze mit einem „Damen zuerst.“
Das war eine sehr wacklige Angelegenheit und wahrscheinlich war ich es, der später die anderen vor dem Ertrinken retten müsste. Ich wagte mich als letzter aufs Boot und war dann doch beeindruckt, wie stabil die Sache von innen aussah. Absolut delikat, ich sag’s euch! Schnell hatten wir alle Sitzangelegenheiten geklärt. Willi erklärte uns, wie man die großen Kochlöffel zu bewegen hatte, damit sich auch das Boot bewegte, und los ging unsere Fahrt. Ich saß am vorderen Ende und sah August beim Rudern zu. Hinter ihm saß die Cousine und schaute mir dabei zu, wie ich August zuschaute. Ein faszinierender Kreislauf der Beobachtungen. Nur Willi, der hinter Charlotte gequetscht war, beobachtete irgendetwas anderes. Natur wahrscheinlich oder Wolken.

August der Starke rührte die großen Hölzer wie vom Hund gebissen und hatte uns in Windeseile in die Mitte des Sees transportiert. Immer wieder stieß er seinen viel zu großen Zeh gegen mein Bein, um mir mitzuteilen, dass es jetzt gleich losgehen würde.
„Hier ist doch ein guter Platz für eine Pause, meint ihr nicht auch?“, rief August viel zu auffällig, aber die Cousine schien keinen Verdacht geschöpft zu haben. Es ging also los. Vorhang auf, Akt eins des Laientheaters.
„Ja, August“, rief ich zurück, „das ist ein wundervoller Platz. Vielleicht werde ich Ausschau halten nach einem Fisch.“ Das wäre nichts gewesen für mich, so ein Schauspielerleben, aber ich gab mein Bestes für August. Langsam stand ich auf und schwankte.
„Oh nein, ich falle“, rief ich, ganz ohne Enthusiasmus und fiel vom Boot.
Vielleicht kennt ihr das, dass ihr etwas tut und noch währenddessen merkt, dass es ein Fehler war. So erging es mir beim Fall aus Willis Boot. Da fiel ich also, sehr überzeugend, in den See, als ich sah, dass das andere Boot bereits nähergekommen war. Natürlich hatte ich das nicht gesehen, da ich ihnen mit dem Rücken entgegen saß. Hätte ich es gesehen, dann wäre ich nicht ins Wasser gesprungen wie der letzte Einfaltspinsel. Auf dem Boot war nämlich meine Emma, entzückend wie immer, mit ihrem Bruder Ferdinand.
Und das war der Moment, in dem mir mein Fehler ins Gesicht sprang wie eine aufgewühlte Katze. Aber es war zu spät. Ich war nass, Charlotte rief wie ein wildgewordener Baum und Willi beobachtete etwas, das einer Wolke nicht nur unähnlich, sondern sogar sehr ähnlich sah. August war mittlerweile wie geplant hinterhergesprungen, um mich zu retten. Auf dem anderen Boot lachte Emma. Und natürlich war da noch Ferdinand, der froschgleiche Charakter, der wahrscheinlich vom Schwanken des Bootes einen ganz grünen Kopf bekommen hatte und jetzt noch amphibischer aussah als sonst schon. Der Kerl lebte fälschlicherweise im Glauben, schon einmal mein Leben gerettet zu haben. Wahrscheinlich dachte er sich, dass aller guten Dinge zwei waren, denn bald schon zerrte nicht nur August an mir, sondern auch Ferdinand, der ebenfalls ins Wasser gesprungen war. Das war mal wieder typisch. Ein so gut durchdachter Plan musste natürlich schiefgehen. Ich schwamm selbst zurück und zog mich ins Boot, wo schon eine besorgte Cousine auf mich wartete. August warf mir einen Blick zu, den ich selbstverständlich deuten konnte. Er sagte: „Lass die Finger von der Cousine.“ Dabei war es die Cousine, die mich mit ihren Fingern bearbeitete.
Einen vollkommen anderen Blick warf der Frosch Ferdinand in Richtung Himmel. Einen Blick, den man von einer Kuh im Wasser erwartet hätte, aber sicherlich nicht von einem Frosch. Ferdinands Blick sagte nämlich: „Ich ertrinke!“

Da war sie. Meine Chance, Emma zu zeigen, dass ich der wahre Heros dieses Tages war. Ich war bereit, zurück ins Nass zu springen und den armen Frosch ins Trockene zu bringen. Hätte mich die Cousine nicht mit ihren stämmigen Armen fest im Griff gehabt. Ich versuchte, mich ihr zu entreißen, aber das Ganze war eine Treibsandsituation. Nun war es so, dass ich vollständig beschäftigt war, mich loszureißen, dass es komplett an mir vorbeiging, dass August den ertrinkenden Frosch bereits ins benachbarte Boot gerettet hatte, wo sich meine Emma um den armen Kerl kümmerte. Und wieder flogen Blicke, dieser Tag war eine einzige Blickwerferei. Emmas Blick war es dieses Mal, den sie zu August fliegen ließ und der ihm sagen sollte: „Oh, du mein Heros!“ War es nicht der Wille, der zählte? Und niemand wollte Ferdinand so sehr retten wie ich.
Besagter Retter war mittlerweile wieder auf unserem Boot und triefte nur so vor Seewasser und Eigenlob.
„Das war tadellos“, sagte er, stolz wie nie zuvor und ich überlegte, ihn trotzdem zu tadeln. Ich sprang ihm jedoch bei, um unseren Plan doch noch zu erfüllen.
„Sehr tadellos“, stimmte ich zu und legte superlativisch nach, „am tadellosesten, findest du nicht auch, Charlotte?!“
„Ach, Karlchen, ich bin eigentlich nur froh, dass dir nichts zugestoßen ist“, antwortete sie und Scham brach wie eine Welle über meinen sowieso schon nassen Körper. Karlchen. Das war nicht auszuhalten.
Ferdinands Boot hatte mittlerweile das Land erreicht. So schlimm konnte das Ganze für ihn nicht gewesen sein, wenn er es geschafft hatte, schneller an Land zu rudern als wir. Emma und Ferdinand empfingen uns am Steg.
„August, du hast mein Leben gerettet, wie ich einst Karl. Ich werde dir für immer zu tiefstem Dank verpflichtet sein“, sagte Ferdinand und warf mir einen Blick zu, der voller ungesagter Worte war. Aber ich hatte genug von diesen unausgesprochenen Blicken und breitete mich zum Trocknen auf der Wiese aus.
„Karl“, sagte August, der plötzlich neben mir erschien wie einer dieser Geister in alten Gedichten, „meinst du das hat geklappt?“
„August, mein Guter, du hast doch gesehen, wie der Baum mich umschlungen hatte.“
„Welcher Baum?“, fragte August und ich führte das Gespräch fort, ohne diese Frage zu beantworten.
„August, das ist ganz gewaltig schiefgelaufen, das ist ein absolutes Brimborium!“
„Ein was?“, fragte August und wieder bekam er keine Antwort.
„Hör zu, wir müssen einen Weg aus diesem Schlamassel finden.“
„Ah, ist das, was Brimborium bedeutet? Schlamassel? Wo findest du nur immer dieses delikate Vokabular?“, fragte August. Jetzt war aber wirklich keine Zeit, über Brimborien und Schlamassel zu sinnieren.
„Wie bringen wir die Cousine dazu, von mir abzulassen und dich in den Griff zu nehmen und, noch wesentlicher, wie bekommen wir Emma dazu, dass sie ihr Interesse an dir wieder verliert?“
„Karl, du Camuff, hab mal keinen Bammel“, begann August und jetzt wollte ich ihn wirklich tadeln. Wie kam er darauf, mir ein delikates Vokabular vorzuwerfen, wenn er mir Sätze wie diesen präsentierte? Er fuhr fort: „Emma ist nichts für mich. Die is‘ viel zu klein. Ich brauch ‘ne richtige Frau. Vor allem wär‘ ich dann mit einem Dusel wie Ferdi verwandt.“ Über den zweiten Punkt hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber das war ein berechtigter Einwand.
„Und nun? Hast du noch so einen tadellosen Plan?“, fragte ich.
„Natürlich, Karl. Heut Abend beim Willi, da bring ich den neuen Pflaumenlikör vom Opa. Ich sag’s dir, das hilft immer.“
„Hat das jemals geholfen?“
„Erinnerst du dich an die Elli vom Gießler? Mit der hab‘ ich doch nen Likör getrunken und danach hat sie mir einen Blick zugeworfen, der eindeutig gesagt hat …“
Ich unterbrach ihn, da ich noch immer genug von sprechenden Blicken hatte. Aber es war der einzige Plan, den wir momentan parat hatten, und hatte wohl noch zu viel Wasser in der Birne, da mir auch kein besserer einfiel. Hauptsache, die Cousine würde so schnell wie möglich bei August Wurzeln schlagen.
Zu viert machten wir uns auf den Weg zurück ins Dorf. Emma war mit ihrem verfroschten Bruder zurückgeblieben, da dieser sich spontan entschieden hatte, wehleidig zu werden. Und so gern ich Emma auch mochte, einen Ferdinand in solch einem Zustand konnte ich jetzt auch nicht auf mich nehmen.
„Hört mal, ein Specht“, sagte Willi und ich hatte erst jetzt wieder wahrgenommen, dass er auch dabei war. Armer Kerl, ständig so vertieft in die Vogelwelt. Wir blieben stehen und sperrten die Lauscher auf. Nach einer Weile klopfte es. Ein sehr unspektakulärer Vogel war das. Und vor allem musste das schlimm sein für die anderen Vögel, die schlafen wollten und wurde dann plötzlich selbst wieder müde. Lange hatte ich jedoch nicht Zeit, um vom Schlafen zu träumen, denn schon bald spürte ich etwas in meinem Haar. Ich dachte zuerst an einen frechen Achtbeiner, der dort sein Unwesen trieb, aber es war die Cousine, die versuchte, irgendeinen grünen Stängel mit zugehöriger Blüte in meinen Kopf zu stecken.
„Das steht dir bestimmt, Karlchen“, sagte das Cousinchen Charlottchen und präsentierte mir freudig eine Handvoll Blumen, die sie entwurzelt hatte. Blumen hatten meiner Meinung nach natürlich ihre Raison d´être, aber es war nicht mein Kopf, an dem sie êtren sollten. Ein Garten, wo ich sie je nach Bedarf betrachten oder ignorieren konnte, schien mir ein geeigneterer Ort.

***

Zurück im Dorf verabschiedeten wir uns. Die Cousine ein bisschen zu fest für meinen Geschmack. Zuhause angekommen setzte ich mich auf die Bank vor dem Haus, zündete eine Pfeife an und würdigte die Blumen, die in meinem Garten vor sich hin êtreten keines Blickes. Es war schon spät, aber trotzdem noch genug Mittag für den gleichnamigen Schlaf. Ich hängte meine nassen Klamotten an den Apfelbaum, bat Herrn Müller, darauf Acht zu geben, und ging ins Bett.
Als ich später am Abend bei Willi ankam, schwebten bereits Augusts Likörgeschichten durchs offene Fenster und mir gingen zwei Erklärungen durch den Kopf. Entweder hatte ich länger geschlafen, als gedacht oder August meinte es tatsächlich ernst mit der Cousine. Normalerweise war er der letzte, der in unserer Runde erschien. Momentan war er dabei, von seinen Abenteuern in Berlin zu erzählen. Vom schillernden Nachtleben und Erläuterungen zum korrekten Trinken von Absinth. Ich kannte diese Geschichte schon und zündete mir im Garten vor dem Haus noch eine Pfeife an. Augusts Berlin-Gefasel gesellte sich zu mir.
„Berlin ist so kosmopolitisch, das ist ‘ne wirklich delikate Metropole“, sagte er, „Warst du schon mal in Berlin, Charlotte? Meine Tante wohnt dort und ich kann dich gerne mitnehmen und dir zeigen, wie fabelhaft das Großstadtleben ist.“ Dass seine Tante in Wahrheit irgendwo in der Nähe von Berlin, aber nicht in Berlin wohnte, das verschwieg er selbstverständlich.
„Oh, ich liebe Berlin, es ist so eine wundervolle Stadt“, sagte die Cousine, „Ich glaube, dass jeder einmal im Leben in Berlin gewesen sein muss. Ich würde es nicht ertragen, wenn jemand miserabel über diese wunderbare Stadt sprechen würde. Vielleicht fährt Karlchen mal mit mir hin.“
„Vergiss doch mal diesen Karl. Der hat nichts übrig für Berlin, der ist kein bisschen kosmopolitisch. Willst du noch einen Likör?“
„Karl, du Genius“, sagte ich leise zu mir. Wenn mein spontaner Plan aufginge, dann wär die Sache ganz schnell erledigt.
Es war Zeit für meinen Auftritt. Der zweite Akt, der hoffentlich nicht so ins Wasser fallen würde, wie der erste. Ich klopfte an Willis Türe und unser Spechtfreund reagierte flott.
„Grüß dich, Karl“, sagte er mit Blick und Mund und ich trat ein.
„Hallo, Karlchen“, sagte Charlotte und zog den letzten leeren Stuhl neben sich. Ich setzte mich und bevor ich mit meiner Hand das Glas greifen konnte, das August für mich mit Likör gefüllt hatte, schnappte die Cousine schon meine Hand.
„Schau mal, Karl“, sagte sie und zeigte auf den Blumenstrauß, den jemand behutsam in eine Weinflasche gequetscht hatte, „die sind für dich.“
„Ah“, sagte ich und beschloss, dass es Zeit für meinen Plan war, „was hab‘ ich verpasst? Was ist das Leitmotiv des Abends?“
„Berlin“, sagte August und er schien einen ähnlichen Plan zu haben wie ich, „sag Karl, was denkst du über Berlin?“ Akt Nummer Zwei hatte begonnen.
„Berlin ist ein stockmiserabler, scheußlicher Ort, ich will gar sagen katastrophal! Vor nicht allzu langer Zeit stand ich knietief im Schweinemist und würde einen solchen Ort jederzeit Berlin vorziehen“, erklärte ich und die cousinischen Hände lösten sich. Ich sprang auf und wurde lauter.
„Man muss entweder verrückt sein oder ein ganz mieser Halunke, um sich dort wohlzufühlen!“, rief ich und beendete das Ganze mit einem Grollen, das selbst den größten Donner wie eine schnurrende Katze aussehen ließ.
Und das, mein lieber August, war, wofür das Wort tadellos erfunden wurde. Meine Hände waren cousinenfrei und ich griff nach dem Glas mit Augusts Likör. Der konnte sich glücklich schätzen, dass mein Plan funktioniert hatte. Mit diesem scheußlichen Zeug hätte er den Baum höchstens vergiftet.
„Ach, Karl“, schluchzte die Cousine und sah mich mit Ausgussaugen an, „ich dachte, du wärst etwas ganz Besonderes, aber ich möchte nicht mit jemandem mein Leben verbringen, der so scheußlich spricht.“

Ja, man könnte mir jetzt vorwerfen, ich wäre etwas zu gemein gewesen, aber wenn ich einmal in einer Rolle bin, dann bin ich nur schwer zu stoppen. August nahm die Cousine tröstend in den Arm und versuchte, mir zuzuzwinkern, aber das konnte er noch nie, deshalb blinzelte er nur ein paar Mal, bevor er aufgab. Ich würde hier nicht mehr gebraucht werden, also verabschiedete ich mich. Willi hatte von dem allem nicht viel mitbekommen, da er seine Nase in einem Buch vergraben hatte, vermutlich irgendwas mit Vögeln.
Bevor ich Willis Bude verließ, extrahierte ich noch den Blumenstrauß aus der Weinflasche. Den hatte ich mir jetzt verdient.
„Seit wann bist du denn ein Blumenfreund?“, fragte Willi, als ich schon an der Türe war. Der Kerl bekam doch mehr mit, als ich dachte.
„Ich statte Ferdi noch einen Krankenbesuch ab, da kommt man nicht ohne Blumen.“
„Aber Karl, ich glaub du hast da was verwechselt. Ferdi muss von Blumen immer nießen. Ich hab‘ aber gehört, dass Emma Blumen ganz fabelhaft findet.“
Genau das hatte ich auch gehört.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Felix Anker.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert