I. J. Melodia – Kindertage

Der Schnee reflektiert die Sonne, strahlt in die Gegenwart. Lucian blickt über den Horizont der Alpen in die Ferne; in die Vergangenheit. Wie damals als Kind, auf den Wanderungen mit meinem Vater. Ein Seufzer vermischt sich mit Lucians Atem, sie legen sich gemeinsam in die Kälte.

Was meinte tată beim Ausflug ins Făgăraș? Dieses Gebirge sei das Rückgrat des Landes. Im Nachhinein ironisch aus dem Munde des Mannes, der uns verlassen hat. Lucian setzt sich, zieht die Handschuhe aus, berührt den Schnee. In Gedanken spürt er dem Schmerz nach, dieser Kerbe in der Erinnerung.

Erst ein Schatten lässt ihn aufschauen. Sein Sohn steht vor ihm und fragt: »Alles in Ordnung? Bist du müde?«

»Nein, Dorin. Ich denke nur an meine Kindheit.«

Der hochgewachsene Mann starrt seinen Vater an, der noch immer den Schnee betastet. »Du hast mir nie von damals erzählt. Ich weiß nichts von unserer Familie«, erwidert Dorin mit Zittern in der Stimme. Teils aufgrund der Kälte, teils infolge der aufkommenden Emotionen.

»Deine Familie sind Mutter und ich. Außerdem gründest du bald eine eigene.«

»Lass mich erst mal heiraten«, antwortet ihm sein Sohn lächelnd.

»Vater, haben wir noch Verwandte in Rumänien?«

Lucian nimmt die Mütze ab. Sein schwarzer Herrenschnitt zeigt bereits graue Strähnen. Was soll ich ihm sagen? Kaum fiel der Eiserne Vorhang, verschwand tată mit Geld und Koffer. Ließ uns alleine.

»Nein«, flüstert er fast. Meine Mutter starb innerlich. Ihre leere Hülle trug ich ein Jahr später zu Grabe. »Und es gibt nichts zu erzählen«, fügt er bestimmt hinzu. Fast erwachsen und ohne Familie. Was wollte ich denn noch an diesem Ort?

Lange schweigt Lucian. Die Wanderung war seine Idee, um ein letztes Mal Zeit mit seinem Sohn vor dessen Hochzeit zu verbringen. Die Liebe zur Natur: das einzig Gute, das ihm sein eigener Vater hinterlassen hat.

»Die Wurzeln liegen brach. Wie blutleere Adern«, bricht er endlich die Stille. Doch Dorin versteht nicht.

»Je älter ich werde, desto mehr vermisse ich die Heimat. Seit fast 30 Jahren war ich nicht mehr dort. Ich fühle mich wie ein Untoter. Gefangen zwischen Welten. Zwischen der Schweiz und Rumänien, zwischen Graubünden und Siebenbürgen. Zwischen Wahl und Blut.«

»Was vermisst du?« Dorin hofft auf mehr.

»Den Geruch der Buchenwälder, das Heulen der Wölfe. Den Geschmack von ciorbe …« Lucian hält inne. Anii călăresc repede. Die Jahre reiten schnell. »In meinem Heimatdorf gab es einen Brauch für junge Männer, die sich vermählen.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Es gibt eine Kirchburg auf einem Hügel. Wenn ein Mann heiratete, musste er zuvor einen runden Stein hochrollen. Dieser diente im Ernstfall der Verteidigung, symbolisierte aber auch die Arbeit, die man in eine Ehe einbringt.«

Vater und Sohn schweigen eine Weile.

»Das würde ich gerne machen, wenn du mitkommst, Vater.«

»Anii călăresc repede.«

»Ich verstehe nicht …«

Doch Lucian reagiert nicht, steckt nur beide Hände in den Schnee und beginnt zu graben.

»Was tust du?«

»Ich suche nach Kindertagen, fiul meu.«


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Hier geht es auch zu den 16 Fragen an I. J. Melodia.

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