Juri Ricken – PurPur und KI

Smirov las die Mail zum wiederholten Male durch. Die Mail in welcher stand, dass seine Arbeit durch eine künstliche Intelligenz ersetzt wird. »Es ist so weit.«, dachte er in sich, »Das in letzter Zeit so oft debattierte Szenario trifft jetzt also ein …« Ungläubig las er nochmals. Dann klappte er seinen Laptop zu. Er dreht sich auf seinem Stuhl und blickte in sein Zimmer. Forschend sah er erst seine Gitarre und sein Klavier an, dann wanderte sein Blick über das Bücherregal und haftete sich auf seine Staffelei, die sich direkt neben den großen Kastendoppelfenstern befand. »Wird all das noch Wert haben in der Zukunft? Wird alles was mir wichtig ist erodieren? Ist es nicht schon im vollen Gange?« Smirov sprach laut in sein Zimmer hinein. Es überkam ihn auf einmal ein schrecklicher Weltschmerz. Undefiniert, nicht greifbar, breitete sich das Gefühl in ihm aus. Sein Herz zog sich zusammen. Schwindelnd stand er von seinem Stuhl auf und taumelte in die Küche. Vor seinem Weinregal machte er halt und zog eine Flasche SYRAH Jahrgang 2018 heraus. Er schenkte sich großzügig ein, weitaus mehr als es bei Rotwein vornehmend wäre. Sein Glas war randvoll. Er trank einen kräftigen Schluck ab und schaltete das Radio ein. “Helplessly Hoping” von Crosby, Stills & Nash ertönte aus dem kleinen Lautsprecher. Smirov sackte auf den Stuhl nieder, nahm einen weiteren, kräftigen Schluck, stellte sein Glas nieder, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und schaute aus dem Küchenfenster in den Innenhof. Als das Lied zu Ende war, nahm er den letzten Schluck aus seinem Glas und schaltete das Radio ab. Zur Tür laufend warf er noch einen Blick in sein Wohn- und Arbeitszimmer und bemerkte, dass Also, sprach Zarathustra noch aufgeschlagen auf seinem Lesesessel lag. Er nahm das Buch und schob es in eine passende Lücke ins Bücherregal. Als Smirov auf die Straße trat, merkte er, wie ihm der Wein bereits zu Kopf stieg.

Die Noggat Klause war eine Eckkneipe mit dunklen Bleiglasfenstern. Tommy, der Inhaber der Kneipe, bewerkstelligte, dass sie seit fünfzehn Jahren dauerhaft geöffnet war. Als Smirov an diesem Vormittag an die verrauchte Bar trat, erblickte er seinen Freund Harry. Harry konnte man, genau wie Smirov, als Kleinkünstler bezeichnen. Genau wie er war er freiberuflich und hangelte sich von Auftrag zu Auftrag. Sein Schwerpunkt galt der Musik. Vor kurzem wurde er von einer Supermarktkette eingestellt, um deren Werbung zu produzieren. Seitdem hatte er viel freie Zeit, ein geregeltes Einkommen und man traf ihn dementsprechend oft in der Klause. »Heee! Na sieh mal einer an, wenn das nicht mein Freund der Smirov ist!«, rief Harry überrascht aus. »Tommy, mach uns mal zwei frische, bitte! Na, wie geht es dir Smirov alter Knabe?«, er begrüßte Smirov mit einer Umarmung und freute sich offensichtlich, ihn zu treffen. Dieser gab sich Mühe seine Laune zu untergraben und umarmte ihn ebenfalls herzlich. »Na du! Und bist du immer noch Spargel am bewerben?«, fragte Smirov grinsend. »Hahah, ja! Ich sage dir ich habe erst letzte Woche den besten Spargel-Jingle geschrieben den du dir vorstellen kannst, alter Knabe, hehe! Ist’n Ohrwurm, geht dir nicht mehr aus dem Kopf!« »Was du nicht sagst, Harry!« Die beiden setzten sich und stießen an. »Nun erzähl mal, was treibt dich in die Noggat Klause zur solch unchristlicher Zeit?«, erkundigte sich Harry. Smirov leerte sein Bier bereits zur Hälfte nach dem ersten Ansetzten. Er wischte sich den Mund ab und begann zu erzählen. Harry hörte ihm aufmerksam zu. Smirov erzählte von seiner Kündigung. Als er fertig war runzelte er die Stirn und drückte sein Mitgefühl aus. Er klopfte ihm auf die Schulter und sprach mit flüchtigem Lächeln »Kopf hoch mein bester. Ist doch nicht der erste Job den du verloren hast. Ich kenne das doch auch. So läuft das bei uns Freigeistern. Du wirst bald was Neues finden, alter Knabe!« »Nein, nein, diesmal ist es anders, Harry«, Smirovs Miene verdunkelte sich, »Die KI wird uns alle ersetzen. Wozu braucht es dann Leute wie dich und mich?« »Hah, wozu brauchte es jemals Leute wie dich und mich!«, prustete Harry laut aus. Sie leerten das nächste Bierglas und dazu einen Schnaps.

»Du verstehst noch gar nichts, oder?« ,Smirov fuhr fort, sein Tonfall eine Mischung aus Eifer und Verzweiflung, »Der Künstler ist tot und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns die Mörder aller Mörder? Wohin gehen wir?« »Jetzt fang nicht damit an. Haste wieder den Friedrich ausgekramt? Du klingst ja wie ein alter Mann, der keine Lust mehr auf technischen Fortschritt hat!«, entgegnete ihm Harry. Die Stimmung zwischen den beiden wurde hitziger. »Und du bist ein blinder Mann, wenn du mir nicht zu stimmst!« Das nächste Bier und der nächste Kurze wurden gebracht und Smirov sprach weiter. »Eine Maus würde niemals eine Mause falle bauen, doch der Mensch baute sich eine. Ein Pianist an einem selbstkomponierenden Klavier? Der Malende, der Form und Fassung schafft, der Musizierende der Klang und Stille schafft, der Schreibende der Geschichte und Wahrheit erfindet. Eines haben sie alle gemeinsam. Sie sind schon alle so gut wie tot. Manch einer läuft noch um her, doch ihr Schicksal ist besiegelt. Lebende Tote am Beatmungsgerät der Gesellschaft. Denn einsehen wollen es wahrlich noch nicht alle. Doch sie leben in einer Illusion, wenn sie meinen, dass KI nicht bald die gesamte Szene erobert!« Die beiden leerten ihre Schnapsgläser. Ihre Blicke wurden langsam trübe und unpräzise, doch Smirovs Worte blieben scharf. »Einzig der Schauspieler kann seine Berufung weiter ausführen. Denn die Ästhetik des menschlichen Körpers und seine Bewegungen sind nach wie vor schwer zu imitieren. Bis jetzt! Also kann der Schauspielende zunächst noch sein tägliches Brot verdienen. Als Interface dienen!« Harry schaute ihn verständnislos an. Unbeirrt setzte Smirov seine Rede fort. »Ja, er ist die Schnittstelle zwischen Digitaler und Analoger Welt. Das Skript, geschrieben von einem System, in Menschen-Sprache und Gestik umwandeln, das ist seine Aufgabe. Der Musiker jedoch, ist nicht so gut dran. Schon jetzt werden Symphonien errechnet und Worte gesungen, aus Mündern die vor Jahrzehnten starben. Was nützt dein Wissen, eine KI hat alles Wissen, hat alles gehört und alles gespielt bevor du den ersten Gedanken zu Ende gebracht hast.«

»Bist du fertig?« Harry hob sein Glas und trank es aus. In der Bar war es leer. Er wischte sich mit der Hand durchs Gesicht und kniff die Augen zusammen. Wohlwissend, dass Smirov sich nicht von seiner Meinung abbringen lassen würde, konnte er es dennoch nicht dabei belassen. »Woher willst du jene kühnen Behauptungen erfahren haben, Friedrich? Wer sagt, dass es nicht bloß Schwarzmalerei ist, die du da betreibst? Ich meine, wir reden hier über Kunst, nicht über Leichtathletik. Seit wann kann man Kunst messen, ist es nicht gerade das Unlesbare, welches einen Text mit Leben füllt? Sind es nicht gerade die unhörbaren Töne die uns träumen lassen? Nein, der Mensch kann die Kunst nicht töten, auf bloßes Handwerk kommt es bei ihr schon lange nicht mehr an. Die Idee ist es die uns packt und auf die Reise schickt. Und welche Idee du, oder ich, morgen haben, bleibt genauso ein Mysterium, wie es eins, vor hundert Jahren war.« Smirov riss die Augen auf. »Nicht die Kunst haben wir getötet, Harry. Jeden Künstler und jede Künstlerin! Die Empfänger der Kunst bleiben dieselben. Ich meine, stell dir vor: Du tauchst in die Tiefen des Meeres, bis auf den Grund. Unter Sauerstoffmangel, sammelst du kleine Schnecken von den Felsen. Wenn du genug hast tauchst du auf und schwimmst zurück an den Strand. Du zerstampfst die Muscheln und lässt sie trocknen. Mit dem Pulver malst du anschließend ein Gemälde. Eine prachtvolle, saftige, grüne Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckt. Und die Blumen auf deiner gemalten Wiese blühen im kräftigen Purpur rot …« Smirnov hält inne. Harry hält sein Bier in der Hand und zieht eine Augenbraue hoch. Hinten an der Spüle klimpert Tommy mit Gläsern. »Oder du kaufst dir eine Farbe beim Kodi und malst dasselbe Bild. Wie vielen würde der Unterschied auffallen?« Das anschließende Schweigen herrschte eine Weile, bevor Harry sich erhob. »Ich muss gehen, alter Knabe. Halt die Ohren steif!« Beim vorbei gehen klopfte er Smirovs Schulter. Aus der Kneipe tretend blendete ihn das Tageslicht. Er wankte nach Hause und schüttelte dabei den Kopf. »Ne ne, ich hoffe der Typ fängt sich. Hätte nicht so viel Nietzsche lesen sollen, haha.« Zuhause angekommen ertönte ein bekanntes Geräusch. Harry hatte eine Mail bekommen. Er schaute in sein Postfach und las den Namen der Supermarktkette.

“Sehr geehrter Herr Lichter,
in Bezug auf unsere Werbe Produktion werden in unserem Unternehmen einige Änderungen vorgenommen. Mit bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass …”


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Juri Ricken.

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