Lars Döring – Wunderkind

Friedrich Spesmanns Geburt verlief derart reibungslos, dass seine Mutter erst die Wehen bekam, als sie ihren Sohn bereits in den Armen hielt. Die Finger bewegte er mit der Eleganz und Behändigkeit eines Kapellmeisters und in seinen entschlossenen Augen ließ er eine Gespanntheit des Verstandes aufblitzen, die sich unmittelbar auf seinen Körper übertrug. Er strampelte kaum mit den Beinen, vielmehr war es ein beherzter Gang, von dem er nicht erwarten konnte, ihn endlich in die Tat umzusetzen. Man hörte ihn nie schreien, stattdessen wirkte seine Stimme unaufdringlich und zurückhaltend, als entschuldige er sich im Vorfeld für die aufkommenden Unannehmlichkeiten, derer er sich durch seine Abhängigkeit von Mutter und Vater schämte. Er wurde nie wirklich älter, da er immer schon alt war, und geduldig wartete er auf den Tag, dass sein Leib in der Reife stand, die sein Geist längst besaß.

„Ihr Sohn“, verkündete der Arzt im Kreißsaal, „ist einzigartig. Ein solches Kind wird es weit bringen. Verschwenden Sie sein Talent nicht!“

Die Eltern mühten sich und hielten ihn von allen schlechten Einflüssen fern. Er übersprang drei Schulklassen, mit zwölf machte er den Doktor und niemand war überrascht, sein Vater als Hauptmann noch am wenigsten. Dieser zog sich zur Abschlussfeier seine beste Uniform an, mit goldenen Manschettenknöpfen und einem Vatermörder, so groß wie sein Stolz an diesem Tag.
„Wir erwarten viel von Ihnen“, sagte der Direktor der Universität während Friedrichs Laudatio. „An Ihnen werden sich nachfolgende Generationen messen lassen müssen. Er lebe hoch!“
Der Applaus im Saal war jenes verhallte Donnern mythischer Titanenkämpfe und dauerte ebenfalls elf Jahre, bis einige vor Altersschwäche verstarben. Wundgeklatscht ließ man Friedrich so lange hoch leben, bis dieser sich seinen festen Platz im Olymp gesichert hatte. Selbst die Götter blickten gespannt hinab auf das, was er zu leisten imstande war.
Doch die Erwartungen fochten ihn an. Er war sich der Tragweite seines Einflusses bewusst, nahm die unzähligen Lob- und Dankesreden stillschweigend entgegen und nährte mit ihnen sein Verlangen nach einer Existenz, die seinen Vorschusslorbeeren gerecht sein würde. Mäzene und Magnaten rissen sich darum, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Zum Dank mischte er sich auf ihren Vernissagen unter die Gäste und flüsterte ihnen lateinische Aphorismen ins Ohr. Von dem Geld, das er von seinen Gönnern erhielt, kaufte Friedrich sich ein hübsches Haus, das er nach dem Geschmack eines dem Bildungsbürgertum verpflichteten Akademikers einrichtete, staffierte es mit allerhand Gegenständen aus, die sowohl Weltkenntnis als auch Geistesschärfe bezeugten, und hielt sich den ganzen Tag in seiner Bibliothek auf, um nach einem genialen Einfall zu forschen, der Wirklichkeit und Glaube zusammenführte. Da er allein war, hatte er die nötige Ruhe, sich mit jeder Faser seines Wesens dieser Aufgabe zu widmen. Wie ein Pendel schwang er vor und zurück zwischen Ideen und Bücherregalen, näherte sich ihnen bei Interesse und nahm Abstand, wenn sie ihm zu fad wurden. Er ließ sich Zeit, da er wusste, dass die zu früh gepflückte Frucht sauer schmeckte.

Die Eltern wurden indes ungeduldig. Friedrichs Mutter, eine fromme Calvinistin, glaubte an Gott und an das Sparbuch. Doch als sie sah, auf welch großem Fuß ihr Sohn lebte und dass er nach all den Jahren lediglich einige dem Katechismus entliehene Glaubenssätze als sein eigenes Werk vorzulegen im Sinn hatte, fing sie an zu weinen und setzte nie wieder einen Fuß in sein Haus. Friedrichs Vater hatte die Uniform nicht abgelegt, seit sein Sohn die Doktorwürde erlangt hatte, aber auch in ihm begannen Zweifel aufzusteigen. Im Offizierskasino rankten sich die Gerüchte um ein Scheitern des Knaben, sodass der Hauptmann als Zeichen, dass es ihm ernst war, einen seiner goldenen Manschettenknöpfe ab- und Friedrich vor die Haustür legte. Als dies keine Wirkung zeigte und der Erfolg weiterhin ausblieb, folgte kurz darauf ein zweiter Knopf. Schließlich war er derart erzürnt, aufgebracht und beschämt, dass er seinen Kragen auf offener Straße zusammenfaltete und sich damit vor jedermann die Blöße gab.

Friedrich hingegen arbeitete weiter unermüdlich an der Entdeckung eines Einfalls, der ihn zurück auf den Olymp setzen sollte. Da seine Gönner sich mittlerweile von ihm abgewandt hatten, veräußerte er seinen gesamten Hausrat und all die lieblichen Einrichtungsgegenstände und lebte fortan nur noch von und in den Ideen seiner Bücher. Schwach, abgezehrt und von wilden Traumphantasien behelligt, stieg er eines Tages auf die Leiter seiner Bibliothek, um eine letzte Idee von oben zu empfangen. Aber auf seiner verzweifelten Suche verstieg er sich, ging immer höher, bis er den Göttern schließlich so nah war, dass sie es mit der Angst bekamen. Sie stießen kurzerhand die Leiter um und sahen dabei zu, wie Friedrich neun Tage lang zur Erde hinabstürzte, bis sein heller Stern gänzlich erlosch.


Hier geht es auch zu den 16 Fragen an Lars Döring.

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